Erstellt am: 14. 9. 2011 - 14:36 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (26)

marc carnal
Sonntag, 4. September
■ Im September wird auf motorisierte Verkehrsmittel verzichtet. Folglich ist die Fortbewegung innerhalb der Stadt nur zu Fuß, mit dem Fahrrad oder etwa Inlineskates oder einem Skateboard erlaubt.
Ausnahmen sind nur bei dringenden Reisen über die Stadtgrenze hinaus oder bei einer freundschaftlichen Übersiedlungs-Assistenz gestattet, die ich in den nächsten Tagen zu leisten gedenke.
■ Aus "Gleich hundert Übersetzungsvorschläge für An apple a day keeps the doctor away":
Ärzte von Tirol bis Kärnten
fürchten satte Apfelernten
Apfelbäume blühn im Lenz,
Doktor bank um Existenz.
Wenn ich täglich Äpfel ess',
sitzt der Arzt beim AMS.
Apfel täglich nicht verweigern –
Arzt muss Praxis zwangsversteigern
Isst du täglich brav dein Apferl,
gibt der Doktor dir kein Zapferl.
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marc carnal
Montag, 5. September
■ Wann auch immer ich die Camillo Sitte Gasse passiere, denke ich mir, dass Camillo Sitte ein vortrefflicher Künstlername wäre. Noch besser finde ich den Namen seines Sohnes, Siegfried Sitte.
■ Ich bin für meine schönen Augen, meinen zünftigen Hamur und meine Krautfleckerl bekannt, nicht aber für meine Künste als Skater, deshalb bleiben mir im September nur die Siebenmeilenstiefel oder das Fahrrad.
Mein Fahrrad besitze ich erst seit wenigen Wochen und bin noch nie weiter als hundert Meter damit gefahren.
Die Jungfernfahrt auf meinem Rad zeigt dessen Schwachstellen deutlich auf: Die Bremsen funktionieren ebenso wenig wie die Gangschaltung, es hat kein Licht und die Reifen sind unzureichend mit Luft gefüllt. Mein erster Weg in die Arbeit ist also mit einigem Bangen verbunden.
■ Auf dem Nachhauseweg lasse ich mir zumindest die Bremsen notdürftig reparieren und die Reifen auffüllen. Beim abendlichen Umtrunk erschleiche ich mir unter fadenscheinigen Ausreden von einem Kollegen portable Lichter, um etwaige Bußgelder oder Querschnittslähmungen zu verhindern.
Dienstag, 6. September
■ Besuche das Länderspiel gegen die Türkei. In lieb gewonnener und gewinnbringender Tradition wird ein horrender Geldbetrag auf den Gegner von Österreich gesetzt. Endlich reißt die lukrative Strähne.
Beim Ausflug in den Prater offenbart sich das Problem des aktuellen Verzichts-Monats: Ist man mit Leuten unterwegs, die den heiteren Entsagungs-Reigen nicht mitabsolvieren, muss man immer wieder mit organisatorischen Unannehmlichkeiten rechnen. Während die gar nicht so kurze Anfahrt zum Stadion mit einem Treffpunkt zu einer gewissen Uhrzeit noch problemlos vonstattengeht, ist es mit der nicht gemeinsamen Heimfahrt vor allem deshalb schwierig, weil ich Vollgummi die sogenannte Stadionallee und nicht die eigentlich angepeilte Prater Hauptallee in beschwingter Schussfahrt hinunterrolle, bis ich bei der A4 eine spontane Autoaggression entwickle, umdrehte und schließlich mit brennenden Oberschenkeln weit nach der Geisterstunde zu Hause ankomme, wo ich mir ein paar verdiente Hauswatschn abhole.
■ Unzählige Fernsehmoderatoren schaffen es nicht, sich einen einzigen Buchtitel zu merken und müssen oft mehrere Male während einer Ansage oder eines Interviews am Buchdeckel nachsehen. Bei Plattentiteln sieht man das kaum.
Mittwoch, 7. September
■ Ich fahre fünf Mal die Woche 4,2 Kilometer in die Arbeit und wieder zurück, macht 42 Kilometer die Woche. Alleine damit lege ich in einem Monat 168 Kilometer mit dem Rad zurück. Das kommt mir kurz gar nicht so wenig vor, bis ich daran denke, dass Kollege L. auf seiner irren Salzburg-Moskau-Stockholm-Amsterdam-Salzburg-Tour in diesem Sommer fast jeden Tag über 100 Kilometer gefahren ist.
■ Bürohumor ist der Anfang vom Ende.
Donnerstag, 8. September
■ Ich kann das verfickte Fahrrad jetzt schon nicht mehr sehen. Jeden Weg überlege ich mir doppelt. Gemeinsame Abendaktivitäten versuche ich mit List und Geschick in meine unmittelbare Umgebung zu verlagern. Und dabei habe ich bisher noch großes meteorologisches Glück.
■ Jeder Wiener scheint zumindest ein persönliches Erlebnis mit Richard Lugner zu haben.
■ Eier, Butter, Bier – Texte zu Einkaufslisten unbekannter Provenienz
KLOPAPIER

marc carnal
Regelmäßig hört man von Menschen, denen es unangenehm sein soll, im Supermarkt Klopapier zu kaufen und damit nach Hause zu spazieren. Es gäbe Unzähliges, was der Gesamtbevölkerung peinlich sein müsste: der Verzehr von Snacks in öffentlichen Verkehrsmitteln, private Telefongespräche vor fremden Zeugen oder die Haltung von unattraktiven Hunderassen. Toilettenpapier zu kaufen ist dagegen von Zeit zu Zeit nötig, und es gibt keinen Grund, sich deshalb zu schämen.
Ein gewisser Appeal ist der Vorstellung allerdings nicht abzusprechen, dass ein junger Mann eine Batterie Toilettenpapierrollen auf das Förderband der Supermarktkasse legt und dabei folgende Schmährede des Kassiers zu hören bekommt:
“Na servus, pfiat Gott und auf Wiedersehen, Sie sind mir aber einer! Kauft doch glatt Klopapier, und nicht zu wenig davon! Zehn Rollen! Haben Sie nicht erst letzte Woche schon eine Packung gekauft? Ich hoffe für Sie, dass Sie Teil einer Großfamilie sind, denn wenn Sie so verboten viel Klopapier alleine für sich kaufen, dann möchte ich gar nicht wissen, was Sie damit vorhaben, wobei: Ich kann mir schon vorstellen, was Sie damit anstellen werden! Den Arsch werden Sie sich auswischen damit, der völlig zugekleistert und verkrustet ist vom Dünnpfiff, vom flotten Otto, vom Spritzgulasch, von Ihrer fauligen Arschbrunze, Ihrer Sprühwurst, Ihrer Furzkotze, Sie wissen ja wohl, was ich meine, und wundern müssen Sie sich ja auch nicht, bei der Ernährung! Was muss ich da sehen: Streukäse, Coockies, Sauerkraut, Schupfnudeln … Kein Wunder, da würde mir die Soße aber auch meterweit aus dem Arschloch pfeifen! Wissen Sie eigentlich, wie viele Bäume sterben müssen, nur weil Sie ohne Unterlass auf der Latrine hocken? Das wird Ihnen wahrscheinlich scheißegal sein, scheißegal! Aber es geht mich ja auch nichts an, ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit dem ganzen Klopapier!“
Freitag, 9. September
■ Nach einer knappen Woche kenne ich bereits die besonders auffälligen Protagonisten des Gürtel-Radwegs am Morgen. Nachdem ich mich schon als fixe Größe in der Szene begreife, werde ich in einigen Tagen wohl in der Lage sein, eine Radfahrer-Typologie zu erstellen.
■ Witzbaukasten: Alice Schwarzer, MA 57

marc carnal
Samstag, 10. September
■ Sehr schlechtes Gedicht, im Urlaub geschrieben:
Der Schwan, der Schwan, der Schwan,
mir schwant, er scheißt sich an.
Sein schönes Kleid, er
scheißt es leider
an
der Schwan
der Schwan.
■ Auf amazon kann man die ersten zwanzig Seiten von "Schoßgebete" probelesen. Überhaupt die ersten Zeilen von Charlotte Roche, die ich bisher gelesen habe.
Mal abgesehen vom wirklich unterirdischen Stil: Man kann also die Massen mit der Beschreibung eines streng choreographierten, nur aus Ritualen bestehenden Sexualaktes elektrisieren, den man alle paar Zeilen als total versaut, ungemein geil und verboten wild bezeichnet?
■ Eine ausgesprochen fäkallastige Tagebuchwoche mit dem Schwangedicht und dem Einkaufszettel-Text ...