Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "The Raven Has Come"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

2. 7. 2011 - 10:52

The Raven Has Come

Zweiter Premierenbericht vom Manchester International Festival: Damon Albarns große neue Oper „Dr Dee“ gestern im Palace Theatre.

Schon typisch, dass eine Oper von Damon Albarn mit einem Solo des Erzählers endet.

Zumal er jenen selber spielt.

Vor einem Sternenhimmel mit großen Ballonen als Planeten lässt er sich mit den Worten „Now the raven has come“ von einer schwebenden Plattform rücklings ins Nichts fallen. Man hört ihn ziemlich hart aufschlagen.

Ein paar Sekunden später steht Albarn schon wieder vorne am Bühnenrand und empfängt mit dem Rest des Ensembles den Schlussapplaus.

Ich fühle mich an ein Blur-Konzert im Jahre 1993 erinnert, wo derselbe Mensch in einem Zelt in Reading über den Köpfen des Publikums die schrägen, gut 15 Meter hohen Zeltstangen fast bis zur Hälfte erklomm.

Den größten Teil seiner Oper Dr Dee hat ein 18 Jahre älterer Damon Albarn auf einer abfallenden Stiege sitzend, 10 Meter über dem Boden hängend verbracht. Höhenangst hat er also offenbar keine. Auch nicht in seinen musikalischen Ambitionen.

Ein Popsongschreiber, der auf Oper macht, das ist ungefähr so gefährlich wie eine, die multimedial das Universum erklären will (siehe Björk gestern). Das finde sogar ich als einer, der offen zugibt, Tommy zu mögen (nur die erste Fassung allerdings). Und S.F. Sorrow.

Damon Albarn kennt natürlich die Abgründe der mehr als 40-jährigen Horrorgeschichte erbärmlicher „Rock meets Klassik“-Crossovers, aber das reizt ihn höchstens noch.
Nach der geglückten, irrsinnigen Anmaßung seiner ersten Oper „Monkey – Journey To The West“, westliche Songschreiberei mit chinesischen Traditionen zu vermengen, ist die Vorgabe von Dr Dee als „English Opera“ jedenfalls ein kulturelles Heimspiel.

Palace Theatre

Robert Rotifer

Der reale John Dee war (wie auch aufmerksame StudentInnen des Werks von These New Puritans wissen) ein gelehrter Alchimist im elisabethanischen England des 16. Jahrhunderts und brachte es zum Berater der Königin in wissenschaftlichen und mystischen Fragen. Seine Beziehung zu einem Mann namens Edward Kelley, der sich ihm als spirituelles Medium ausgab und Dee in dessen Drang nach der ultimativen Erkenntnis dazu überredete, seine Frau mit ihm zu teilen, ist ein Kernthema von Albarns Singspiel, Dees schließlicher Verlust der königlichen Gnade nach Elisabeths Tod das andere.

Eine treffliche Gelegenheit, nach The Good, The Bad & The Queen wieder zu seinem alten Britpop-Thema zurückzukehren, wobei Albarn in der Zwischenzeit gelernt hat, die nötigen Brüche in seine nationale Nabelschau einzubauen, zum Beispiel indem den Afro-Beat-Pionier Tony Allen in England-T-Shirt auf von einem nigerianischen Spiritualisten entworfenen Trommeln spielen lässt, die nicht nur einen zum frühneuzeitlichen Kontext passenden, dumpfen Klang erzeugen, sondern dadurch auch noch jeden Anflug von Rockoper zerstreuen.

Albarns Musik schöpft vielmehr aus der englischen Folktradition mit ihren Balladen und Tänzen, aus Kirchenliedern (einer sowieso mangels Coolnesspunkten gern übersehenen Hauptzutat des britischen Popsongs) oder dem Madrigal, und manchmal wird auch ein Popsong daraus, wie etwa im klassisch spätdamonesken, schon vor der Aufführung in einer BBC-Live-Performance vorgestellten „Turn the Applecart“ oder in jener Nummer in der ersten Hälfte, die sich mit der Referenz „Hurricane, Spit and Tornado growl over London today“ konkret auf die Prinzenhochzeit Ende April bezieht – ein Anhaltspunkt dafür, wie spät Albarn seine Oper fertiggeschrieben hat.

Oder in dem wirklich wunderschönen Song, wo John Dee seine Frau kennenlernt „Cinnamon girl, I summon you here / Lay by my side until the light appears“, gefolgt von einer Falsett-Arie Kontratenors Christopher Robson als Kelley (vorstellbar als spukige Version von Antony Hegarty in dessen glatzköpfiger Phase), bei der Albarn sichtlich ergriffen den Kopf schüttelt, so als wäre das Lied nicht Teil einer Oper sondern einer Band-Performance.

Ist es auf eine gewisse Weise auch, denn die Musik kommt von zwei Quellen: Im Orchestergraben spielt verborgen das BBC Philharmonic Orchestra, in einem über der Bühne schwebenden Kasten, der wie der Querschnitt eines Probekellers aussieht, von dem aus eine Wendeltreppe auf ein begehbares Dach führt, spielt dagegen stets sichtbar Albarns Band, bestehend aus ihm selbst an Gitarre und Orgel, Allen am Trommelwerk und neun weiteren MusikerInnen an Lauten, Flöten, Viola de Gamba und Kora.

Diese zwei, vom im Festivalprogramm zurecht als gleichberechtigter „Co-Creator“ geführten Regisseur Rufus erdachten Ebenen lösen auch das Problem der unterschiedlichen Gesangstechnik, Ruin so mancher zum Musical missratener Rockoper.

Albarn, vollbärtig, in schwarzer Lederjacke, Jeans und Socken, sich scheinbar entspannt durch das neben ihm liegende Libretto blätternd, kann seine Songs hier in natürlicher Stimme intim in ein konventionelles Mikro hauchen, während das Ensemble auf der Bühne unter ihm aus vollem geschultem Organ singt.

Nur gelegentlich fällt ein Vorhang vor die offene Bühne, wenn etwa die Hauptfigur John Dee sich in einer spektakulär langen, rhythmisch gesprochenen (aber keineswegs gerappten) mathematischen Schlussfolgerung dem Publikum vorstellt, endend mit dem treffenden Satz: „which is the very thing it was required to do.“

Die Qualität von Albarns Texten ist übrigens eine der unerwarteten Stärken des Stücks, gehalten in souverän semipoetischem Theaterenglisch, ohne Anachronismen aber auch ohne pseudohistorische Posen, versetzt mit merkbaren Kernsätzen wie etwa der an Dee gerichteten Drohung von Walsingham, dem berüchtigten Oberintriganten und Chefspion am Hofe Königin Elisabeths: „I am a student of your sympathies / Your mind is keen / And I am keen to mind it.“

Schlussapplaus

Robert Rotifer

Von Schwächen ist dagegen kaum zu reden. Sicher, manchmal liest Albarn direkt aus seinem Textheft, so als wäre er noch bei der Probe, aber diese Momente der Unfertigkeit erhöhen auf gewisse Art bloß noch den beeindruckenden Effekt der lückenlos fließenden und (wie bei Tony Allen zu erwarten) rhythmisch oft ziemlich komplexen Abfolgen aus Songs und überleitender Instrumentalmusik.

Wenn überhaupt ist es höchstens Rufus Norris, dessen Inszenierung ganz zu Anfang der Oper kurz in Klischeegefahr gerät. Dass ein echter Rabe auf den schwebenden Kasten flattert und wie ein Schauspieler auf Einsatz krächzt, ist zwar wunderbar aber die darauf folgende Parade der Stereotypen als Zeitrücklaufsmetapher, vom Punk mit Irokesenschnitt, über den Banker mit Melone und Regenschirm, der John Cleeses „silly walk“ exerziert, über die Sufragette, Morris-Tänzer und eine junge Regency-Dame bis zu König Charles II. ist ein wenig plump, gerettet allerdings durch den – am Ende des Stückes auch von Albarn selbst so effektvoll ausgeführten - wagemutigen Fall jedes einzelnen der Stereotypen ins dunkle Nichts hinter der Bühne.

Es gibt zwei Vorhänge und stehenden Applaus, der auch nach Angehen der ersten Saallichter noch nicht verebbt (in England ist das viel, hier stehen die Leute in der Oper gern sofort auf), und am Schluss läuft Damon Albarn noch einmal allein auf die Bühne, brüllt einen Urschrei und ballt seine Fäustchen. Es ist genau die Art von Geste, die seine Ächter über alle Maßen nervt, aber sie hat Berechtigung. Dr Dee ist für ihn ein großer Triumph.

Der Mann ist 42. In seinem Alter waren seine vermeintlichen Vorbilder längst am Ende ihrer kreativen Kräfte oder verkrampften sich in ihrem Streben nach hochkultureller Akzeptanz. Nüchtern betrachtet hat Damon Albarn etwas geschafft, woran sie alle gescheitert sind. Ob Elvis Costello (habe die „Juliet Letters“ immer für eine schwere Steißgeburt gehalten) oder Paul McCartney (hat irgendwer von den Leuten, die damals „Standing Stone“ oder „Working Classical“ gekauft haben, diese Platten je ein zweites Mal gespielt?).

Die Achillesferse seines Talents war immer schon das mangelnde Selbstlektorat, aber in der Umgebung eines Theaterensembles ist Damon Albarn gezwungen, sich zusammenzureißen, und die Form des Singspiels entspricht – weit mehr als die mit seinem Jahrgang nicht mehr ganz vereinbaren Gorillaz – seinem wahren Talent als großer Melodiker.

Es gibt keinen Grund, warum er in diese Richtung nicht erfolgreich weiterarbeiten könnte.