Erstellt am: 22. 6. 2011 - 17:07 Uhr
Spätphänomen gegen den Kanon?
"Wir waren die reinsten Pop-Stalinisten, wir glaubten an die Gut-und Böse-Mythen, die wir von der Rock- und auch der Punk-Hegemonie gefüttert kriegten, und so sehr ich unsere verbitterte Schlager-Intoleranz im Nachhinein nachvollziehen kann, so sehr waren wir darin damals schon Heuchler, wie spätestens der große Dammbruch der anfangs noch verschämt ironischen Easy Listening-Welle in den Neunzigern belegen sollte." (Robert Rotifer zur Neil Diamond Rezeption)
Unterschreib, unterschreib. Die "Aussöhnung mit der uncoolen musikalischen Vergangenheit", die ich schon unter der Neil Diamond-Geschichte posten durfte, ist ein Gebot der Stunde. Die Meinungsmacher der späten Siebziger Jahre, die Punks, New Wave Künstler und Journalisten wie Ian Penman Diederichsen oder auch (vorher) Lester Bangs hatten, vor meiner (und Roberts) aktiven Zeit, nicht nur die zeitgenössische Rezeption (vgl. "No Elvis, Beatles, or The Rolling Stones in 1977") festgeschrieben, sondern auch einen willsagen, Paradigmenwechsel eingeleitet, was die Hippie-Epoche, die Musik derjenigen betrifft, deren Eltern ein wenig jünger als der Durchschnitt waren.
So sind wir in eine Zeit reingewachsen, wo bereits völlig klar war, welche Vergangeheit die Gute und welche die Böse sein würde. Das Cool vs. Uncool Spiel war geboren und die Ergebnisse waren für Eltern und Kinder denkbar unterschiedlich. Das Eighties-Namedrop-"Wer muss Sterben"-Spiel war sehr unkontrovers, und es haben wenige überlebt: Neil Young, aber nicht David Crosby, Johnny Cash aber nicht Dean Martin, Robert Johnson aber nicht Muddy Waters, Velvets aber nicht Doors, Jefferson Airplane aber nicht Grateful Dead, Can aber nicht Pink Floyd, David Lindley aber nicht Rory Gallagher und so weiter, ad lib.
Das hat sich zwar in der "Second Order" / Cowpunk Periode über Bands wie Camper Van Beethoven/ Green on Red ein wenig geändert, als CCR und die Dead der "American Beauty" Phase rehabilitiert wurden - bei "Easy Listening", wie Robert erwähnt, wurde es völlig umgedreht und bescherte mir ein verschämtes Johnny Mathis und Dean Martin Outing - aber im Prinzip gilt immer noch: Die Linie, die Heritage einer Band, die ihre Krediblität zum guten Teil bestimmt, wird immer noch in Gut und Böse eingeteilt.
Die Americana Jungs der Stunde rütteln da jetzt kräftig dran.
Ich kann ja auch nicht aus meiner Haut und habe den REO Speedwagon-Einfluss der neuen Bright Eyes und den von Styx bei Okkervil River schon bedauert. Verständlich ist aber der Drang, gerade bei in einer sehr von obgenanntem Kanon bestimmten Enge aufgewachsenen Bands, das Uncoole schon mal cool zu nennen und sich deshalb cool zu fühlen - eine Selbstermächtigung, die zur Umwertung des Kanons in jedem Fall dazu gehört. Und mit Chillwave scheint sich ein ganzes Genre solcher Umwertungen anzunehmen, und die "guilty pleasures" in ihrer Musik - von Leo Sayer und Albert Hammond bis Jim Caroll, Elton John und Billy Joel - sind ständig in Sounddetails und Kitscharragements zu hören.

Vetiver
Vetiver machen das gar nicht. Andy Cabic ist zwar Freund von Krautrock und House, aber Eklektik ist ja ganz normal und seine Liebe gilt Karen Dalton und Michael Hurley, an dessen späterer Karriere er dankenswerterweise sehr beteiligt war. Seine Musik könnte immer noch direkt aus 1972 stammen. Seine Songs sind klassisch geschrieben, sanft gespielt und es scheint ihn auch nicht zu stören, dass die Kritikerschaft - einen "Kanon" verwaltend - die neue Vetiver als Hintergrundmusik zum Gassi gehen und Gurken schälen belächelt.
Aber eine kleine Gemeinsamkeit zu den bilderstürmisch agiernden Geschmacksverirrungen der obgenannten Herren gibt es wohl: Cabic war ja - zusammen mit seinem Freund Devandra Banhart - praktisch ein Erfinder des "Freak Folk", ein Term, den er nicht nur hasst ("it is leading nowhere") sondern auch ein Phänomen, das vorbei zu sein scheint. Banhart klingt wie Bolan und spielt mit Beck, Animal Collective haben einen eigenen Planeten erschaffen und Akron/Family und Vetiver haben das "Freak" aus ihrem Sound verbannt.
Vetiver verstehen sich schon nach wie vor in einer späten Linie der folkigen Musik - Yo La Tengo oder die Vulgar Boatmen winken herbei -, wenn man sich nur auf die Sixties kapriziert, klingt "Errant Charm" nicht wie eine straighte Hippie Folk Band, sondern wie eine, die das Ende des Projektes "Bewußtseinserweiterung" erkannt hat und sich der Natur und der Tradition zuwendet: Die Grateful Dead von "Workingmen's Dead" und "American Beauty", Die zu Poco gewordenen Buffalo Springfield, der Teil der Byrds, der unter Gram Parsons' Einfluss zu den Flying Burrito Brothers geworden waren oder CSN, die der weiterziehende Neil Young später als "Deadweight" bezeichnen sollte. "Errant Charm" fühlt sich auch ein wenig zuhause in der cleanen Klangwelt der Bands, die 10 Jahre später auf dem Hippie Feel in den Kokshimmel abheben sollten, Fleetwood Mac oder Barclay James Harvest etwa .... nur besser, natürlich.