Erstellt am: 21. 6. 2011 - 14:26 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (20)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 12. Juni
■ Der Tiroler hat einen Satz gefunden, mit dem er auf jeden Anflug einer kritischen Äußerung sein musikalisches Schaffen betreffend reagiert und den man derzeit alle dreißig Minuten aus seinem bärtigen Mund hört:
„Kunst ist an nichts messbar.“
Der Satz ist nicht falsch, vor allem ausgesprochen praktisch und lässt sich multifunktional einsetzen.
■ Das Projekt Einkaufslisten gedeiht. Herr und Frau Wurm haben in den letzen Monaten zwei Dutzend Einkaufszettel unbekannter Provenienz gesammelt. Ich wiederum versuche, anhand der Listen Geschichten zu erzählen, Abende zu rekonstruieren, Lyrik zu schreiben, Hausfrauenpsychologie zu betreiben oder kleine Alltagsratgeber zu verfassen.
Mittlerweile sind eine Handvoll prächtiger Texte fertig und jeder Verlag mit Weitsicht und Geschäftssinn sollte schon jetzt den Sparstift ansetzen, um sich die gesammelten Juwelen demnächst leisten zu können.

marc carnal
Montag, 13. Juni
■ Pärchen (Nerv-Version von Paar) in der Straßenbahn, sie sieht aus und spricht wie Katzi Lugner, er wie ein ukrainischer Bauhackler. Original-Dialog, heimlich aufgenommen, Auszug:
Sie: "Du stehts immer auf und dann liest du deine Zeitung und dann isst du so viel und dann trinkst du Kaffee und dann legst du dich wieder hin und schläfst wieder ein. Neinneinneinnein."
(Pause)
Er: "I hob scho ewig koan Bananasplit mehr gessn."
Sie: "Stimmt..."
■ Es bedarf nur einer kurzen Überlegung, um zu erkennen, dass man Flaschen auf Kassen-Förderbänder im rechten Winkel und nicht parallel zur Förderrichtung hinlegt, weil sie dann nicht nach hinten rollen können. Diesen in der Praxis fast täglich überprüfbaren Sachverhalt müsste man nur jeweils einmal pro Leben begreifen und könnte fortan sorgenfrei Waren auf Förderbänder legen. Die Gesamtbevölkerung scheitert trotzdem seit Jahrzehnten daran.
Dienstag, 14. Juni
Muttertag in Afghanistan
■ Rund die Hälfte aller Mobilfunkgespräche behandelt Verbindungsprobleme, schlechten Empfang, verpasste Anrufe, geplante Anrufe oder Beurteilungen des aktuellen Anrufes. Die Mobiltelefonie ist also eine ausgesprochen selbstreflexive Chose.
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kronen zeitung
■ Ein spätes Tête-à-tête zur Geisterstunde in einer lauen Sommernacht. Vor einer Schule wird auf einer Bank Rotwein eingenommen. Ein paar Meter daneben liegt eine ältere Frau und begrüßt uns in einer Sprache, die zuerst an Esperanto, dann an Rumänisch erinnert, später Phantasie zu sein scheint. Langsam zieht sich die Unbekannte aus, beginnt zu onanieren, schlägt sich zwischendurch, stöhnt und schreit durch die Währinger Nacht und schaukelt dabei auch noch wildestens.
Merkwürdig ist vor allem, dass mir die Seltsamkeit der sexuellen Grotesk-Performance erst am nächsten Morgen gewahr wird und ich am Ort des Geschehens seelenruhig weiterparliere, als wären irre onanierende Seniorinnen auf Schaukeln vor Schulen für den Großstädter ein alltägliches Bild.
Mittwoch, 15. Juni
■ Werfe ein 1 Cent-Stück in den Müll und habe ein schlechtes Gewissen dabei. Man kann die Erziehung Zeit seines Lebens nicht leugnen.
■ Nachdem sich viele Filmfreunde schwer damit tun, dem raschen Wechsel von Untertiteln zu folgen und dabei auch noch etwas von den Bildern des Films mitzubekommen, finde ich die Idee versuchsweise umsetzungswürdig, anstatt der Untertitel Sprechblasen ins Bild zu montieren.
■ Man stelle sich vor, von der eigenen Wohnung auf ein Haus mit gut einsichtbaren Fenstern ohne Vorhänge zu blicken. Man kauft sich bald einen Feldstecher, mit dem man die Nachbarn allabendlich beobachtet. Die Nachbarn wissen, dass da ein Unbekannter indiskret ist und bemühen sich zuerst, nichts Unkeusches aufzuführen. Nach zwei Wochen pfeifen sie aber drauf, schließlich kennt man sich nicht persönlich. Sie vögeln am Esstisch und tanzen danach wild im Reigen. Irgendwann ziehen die Observierten weg und neue ziehen ein. Man wird den alten nicht lange nachtrauern und eben die neuen beobachten.
Die früheren Mieter wird man jedenfalls nicht als Freunde bezeichnen. Und wenn man selbst einen Monat auf Urlaub fährt, wird man die gewohnte Indiskretion nicht vermissen.
Soviel zu meinem Verzicht auf Facebook.
(Klar – Die Mehrheit öffnet gerne selbst die Gardinen, zieht sich aus, stellt sich ans Fenster, sieht den Unbekannten beim Bunga Bunga zu und ruft rüber: „Gefällt mir!“
Ich halt nicht.)
Donnerstag, 16. Juni
■ Erfülle einige Stunden des späten Nachmittags und frühen Abends sämtliche Verzichts-Gebote dieses Jahres, was mir erst im Nachhinein auffällt. Ich rauche nicht, trinke keinen Alkohol und keinen Kaffee, esse nur Nüsse und Früchte, masturbiere nicht, aktiviere keine Bildschirme und benutze kein Warmwasser, sondern liege nur ausgestreckt da und kann mich nicht dazu durchringen, wenigstens zu lesen, zu telefonieren oder Radio zu hören. Ein Tagesdrittel ohne jegliche Aktivität. Erholsam wie eine Woche Urlaub.
■ In diesem Monat fällt mir auf, wie oft ich vor allem unterwegs Google benutze. Film-Nebenrollen, Autokennzeichen, Einwohnerzahlen, Fußballergebnisse, Wetteraussichten – ständig möchte ich irgendetwas wissen und sofort mein großzügiges mobiles Datenpaket bemühen.
Schätzungsweise dreißig Prozent aller Google-Impulse lassen sich durch kurzes Überlegen bekämpfen. Wie die Sprache auf den Philippinen heißt, weiß ich nämlich eigentlich.
Sechzig Prozent der verbotenen Suchanfragen sind eigentlich hinfällig, betreffen sie doch Popkultur-Namedropping, nur akut interessante Zahlen oder nur in Diskussionen kurz relevantes Randwissen.
Die restlichen zehn Prozent notiere ich in diesen Tagen entweder auf einer eigenen Google-Liste, bemühe Nachschlagewerke oder rufe notfalls sogar Freunde an.
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marc carnal
Freitag, 17. Juni
■ Kleine SM-Idee: Der devote Partner liegt mit verbundenen Augen, verstopften Ohren und einer Wäscheklammer auf der Nase eine Stunde lang auf dem Rücken und hat dabei den Mund möglichst weit offen. Er weiß, dass ihm innerhalb dieser Stunde sein dominantes Gegenüber dreimal einen kotbeschmierten Finger für einige Sekunden vorsichtig in die offene Mundhöhle stecken wird, ohne ihn dabei zu berühren. Der Devote kann sich also eine gefühlte Ewigkeit angesichts dieser permanenten Möglichkeit lustvoll winden.
■ Witz von Kollege Hure: Warum bekommt der Hirsch im Restaurant immer den besten Platz? Weil das Rehserviert.
Viel besser als die Pointe finde ich bei diesem Jokus die Frage: Warum bekommt der Hirsch im Restaurant immer den besten Platz?
Samstag, 18. Juni
■ Kollege Futtinger erzählt bei der Anfahrt zu einer Feierlichkeit, dass in Steyr einst der sogenannte Flaschenmörder sein Unwesen trieb. Dieser Unhold, ein Arzt, soll mit dem Fahrrad durch die schöne Kleinstadt gefahren sein und mit Glasflaschen wahllos Passanten erschlagen haben. Begeistert ob der Geschichte, die ihm plötzlich wieder eingefallen ist, wird sie später jedem zweiten Partygast aufgetischt.
Später klärt ein Anwesender mit besserem Langzeitgedächtnis die Gästeschar auf, dass es sich in Wahrheit um eine Frau handelte, die ihre Nachbarin mit einer Flasche erschlagen hat und dabei weder in Steyr mordete noch auf einem Fahrrad saß. Kollege Futtinger hat bei seiner Geschichte also nicht übertrieben, sondern eine völlig neue erfunden.
■ Let’s do the One-Minute-Willy-Astor-Fight:
Herr Vater, ich kann die Besorgungen leider nicht erledigen, denn mein Fahrrad ist so verdreckt. Ich hab Moos am Bike. Am besten bringt unser Diener, Herr Phillipp, Ihnen per U-Bahn, was Sie wünschen.
Herr Phillipp, Vati kann nicht schlafen, bringen Sie ihm Tobago und Coffee to go! Un Garn, ich muss noch nähen! Auch mir bringen Sie Zigaretten, beim Nähen tschick i’s dann!
Herr Josef aus dem Schmid Hansl kontert:
Ä gyb dene Mark! Solche Türkeile kriegst du bai Ruth nicht billiger!
Runde eins geht ob der beiden Doppler an Herrn Josef.