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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

8. 6. 2011 - 13:15

Rolling Dung

Journalistischer Bankrott in der Nacht: Wenn der BBC News-Kanal sich buchstäblich der Hellseherei widmet.

Es ist eine der würdelosesten Positionen der modernen menschlichen Existenz, das Liegen auf der Couch, merkend, dass man vor ein paar Stunden beim Fernsehen eingeschlafen ist. Dennoch muss ich zugeben, dass mir genau das gestern passiert ist.

Wie es sich ergab, hatte sich der BBC-Sender, bei dessen Spätnachrichten ich so würdelos eingepennt war, in der Zwischenzeit dem Programm des Rolling News-Kanals BBC News 24 angeschlossen.

In meinem Dusel sah ich immer die gleichen Bilder eines Häuserdachs in einer Gartenlandschaft, aufgenommen aus der Hubschrauberperspektive, gefilmt mit Zoom, daher dramatisch wackelig.

Das Hubschrauberperspektiven-Häuserdach-korpulenter-Mann-auf-dem-Gartenpfad-Loop

So betrachtet sieht alles, was es im Leben geben kann, irgendwie gefährlich aus. Wir sind darauf konditioniert, dass da gleich was passieren wird. Ein Fadenkreuz vielleicht und eine Staubwolke, wo jetzt das Häuserdach ist. Oder Heckenschützen, die einmal lauern, dann von Baum zu Baum robben oder sprinten. Oder eben von Hecke zu Hecke.

Stattdessen stand da aber nur ein korpulenter Mann auf einem Gartenpfad herum.

Die Bilder, die bei solchen Anlässen geloopt werden, während eine Moderatorin dazu eine Kette vager Verlautbarungen strickt, wiederholen sich alle halben Minuten, was gerade beim schlaftrunkenen Zuschauer einen äußerst hypnotischen Effekt erzielt.

Links unten stand ganz groß auf einem roten Balken "Breaking News".

Breaking News in Texas, Gartenhaus von oben auf NBC

Robert Rotifer

Es war ja nicht nur die BBC...

Wenn News nicht berichtet werden, sondern über uns "hereinbrechen", das haben wir gelernt, muss das was ganz Wichtiges sein.

"Natürlich werden wir sie informieren, sobald wir etwas Neues erfahren", sagte die Moderatorin, was als Mitteilung eines Nachrichtensenders ungefähr so hilfreich ist, wie die zwischen die Betriebsstörungsmeldungen gestreuten regelmäßigen Durchsagen in der Londoner Underground "there is a good service on all other lines".

Ja, davon war man doch ausgegangen.

Breaking News in Texas, Gartenhaus von oben auf sky news

Robert Rotifer

Aber auf BBC News 24 gibt es, wie der Name schon sagt, 24 Stunden zu füllen, unter anderem mit Trailern, die zu einer zügigen musikalischen Untermalung BBC-ReporterInnen beim Repotieren zeigen, während eine eingeblendete Stoppuhr 60 Sekunden Zeitverschwendung herunterzählt.

Ein unfreiwilliges bzw. unfreiwillig selbstironisches Zitat der Szene in "Yellow Submarine", wo es heißt "One minute is a long time. Let us demonstrate."

Diesen Trailer zeigten sie nun aber nicht, denn es gab ja stattdessen das halbminütige Hubschrauberperspektiven-Häuserdach-korpulenter-Mann-auf-dem-Gartenpfad-Loop zu zeigen.

Während ich langsam aufwachte, wurde mir klar, dass es sich bei dieser "Breaking News" um eine Meldung aus dem südlichen Texas handelte. Die dortige Polizei, sagte die Moderatorin, habe einen Hinweis erhalten, dass sich im Haus, dessen Dach wir sahen, ein Massengrab befände. 30 Tote, darunter Kinder. Aber einstweilen wüsste man noch nichts Genaues.

Breaking News in Texas, Gartenhaus von oben auf Kong TV

Robert Rotifer

Das war ganz offensichtlich von dringlichem öffentlichen Interesse, weil potenziell tragisch. Keine Minute Aufschub duldete die Verkündung der Möglichkeit, dass hier vielleicht was ganz Grässliches zu erfahren sein könnte.

Und dann, während das Heer der BBC-Amerika-KorrespondentInnen vermutlich bereits die Reiseköfferchen für eine Fahrt Richtung Südtexas packte, kam das unvermeidliche Telefongespräch mit einer Person vor Ort. Es war eine Frau mit dem Vornamen Vanesa, kein Schreibfehler, sondern offenbar „Vänießa“ ausgesprochen – die bisher interessanteste Information in dieser Phase der dringlichen Berichterstattung.

Vanesa war die Redakteurin der zuständigen südtexanischen Lokalzeitung, und was sie uns erzählte, war eine wunderbare Beschreibung der Funktionsweise der globalen Desinformationsgesellschaft.

Robert Rotifer

Alle ihre KollegInnen, sagte sie, seien ausschließlich damit beschäftigt, herbeigeeilten, umherirrenden ReporterInnen der nationalen Newskanäle die Gegend zu erklären, damit die was zu berichten hätten.

Sie selbst wüsste schon seit einiger Zeit von der Polizei, dass es keine konkreten Hinweise auf Leichen in besagtem Haus unter gefilmtem Dach gebe. Das nahm die Moderatorin kommentarlos hin. Die News blieb weiterhin "breaking".

Als ich heute in der Früh das Radio aufdrehte, war das dominante Thema der vorigen Nacht aber spurlos verschwunden.

Robert Rotifer

Weil es mich interessierte, was aus dem Spuk geworden sein könnte, hab ich auf der BBC News-Site nachgeschaut und dank Suchfunktion (Eingabe "Texas mass grave") eine kleine Meldung gefunden, derzufolge a) tatsächlich keine Leichen gefunden wurden und b) der Hinweis, der die Polizeiaktion und den Hubschraubereinsatz und die Newsstories ausgelöst hatte, in Wahrheit der Anruf einer Frau gewesen sei, die sich selbst als "psychic", also als Hellseherin bezeichnet.

Realsatirischer geht’s gar nicht.
Lustig ist aber auch anders.

Ein großer Knödel Scheiße

Das ist schließlich der Nachrichtenkanal einer der respektiertesten Rundfunkanstalten der Welt, der da sein Publikum mit den düsteren Fantasien einer Hellseherin verblödet. Der auf dem Rolling News-Kanal solange sein kleines Mistkügelchen wuzelt, bis es zu einem großen fetten stinkenden Knödel Scheiße wird (a ha, daher also die Überschrift).

Natürlich hat der traurige Zustand dieses Senders, der außer "Breaking News", Wettervorhersagen, Börsen- und Währungskursen, dem billigen Interview-Format "Hard Talk", Presseschauen und endlosen Trailern (die im Ausland Werbefenster sind) längst nur mehr wiederverwertete Beiträge aus den Hauptnachrichtensendungen bringt, etwas mit dem Dilemma zu tun, trotz massiver Budgetkürzungen so tun zu müssen, als könnte man das alte Service aufrecht erhalten.

Andererseits ist das eine faule Ausrede, weil es sehr wohl einen Haufen Stories gäbe, die einE RedakteurIn jederzeit vom Schreibtisch aus aufbereiten könnte. Muss ja nicht einmal teures Material aus der weiten Welt da draußen sein (Zugegeben, die Umdeutung der Flugverbotszone über Libyen zum Bombardement von Tripolis, ein bisschen Jemen und ein bisschen Syrien ging sich noch aus).

Da gab es zum Beispiel die mir über Channel 4 News zu Ohren gekommene Nachricht, dass die Firma Scottish Power ihren KundInnen ab August unfassbare 19 Prozent mehr fürs Gas und 10 Prozent mehr für den Strom verrechnen wird und die Konkurrenz diesem Vorstoß bald folgen wird. Komisch, so hatte man uns das mit dem freien Energieversorgermarkt damals nicht erklärt.

Aber offenbar ist an der Explosion der Gasrechnungen ja das generelle Ansteigen der Gaspreise am Weltmarkt um 55% schuld. Wobei der Verdacht besteht, dass dieses Ansteigen zumindest teilweise auf Spekulation beruht, was wiederum ein guter Zugang zur derzeit brennendsten makroökonomischen Story, nämlich dem Einfluss der Spekulation mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen auf die Inflation bzw. die dadurch entstehende Not in den ärmsten Winkeln der weiten und der nahen Welt gewesen wäre.

Okay, das interessiert die britische Middle-Class, für die die BBC ihr Programm macht, vielleicht nicht so sehr.

Wie wäre es stattdessen mit der am selben Tag bekannt gewordenen Neuigkeit gewesen, dass die überwiegende Mehrheit der englischen Universitäten zum Ausgleich der weggekürzten staatlichen Förderungen nächstes Jahr von ihren StudentInnen die maximalen Studiengebühren von 9000 Pfund pro Jahr verrechnen wird. Wo die Gesetze des Markts doch dafür sorgen hätten sollen, dass weniger prestigereiche Universitäten sich an die Untergrenze von 6000 Pfund halten würden. Was für jene aber, wie sich herausstellt, nur mit einem Abbau der Studienplätze finanzierbar wäre.

Was in Folge wiederum bedeutet, dass der Staat, der sich mit der Reform was ersparen wollte, als Verleiher der Darlehen, die die StudentInnen erst in der Erwerbstätigkeit nach Abschluss des Studiums zurückzahlen werden, hunderte Millionen Pfund mehr auslegen wird müssen als bisher. Eine unglaubliche Pleite, die nun die Universität Oxford dazu gebracht hat, dem Wissenschaftsminister David Willetts offiziell das Vertrauen zu entziehen.

Nein, alles viel zu mühsam, sagt die Redaktion.
Lassen wir das.
Rollt nicht.
Bleiben wir besser bei der Hellseherei.