Erstellt am: 4. 6. 2011 - 12:30 Uhr
Alles Verbrecher
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"Mein Großvater hat immer behauptet, er habe Catherine Deneuve geküsst. In Paris sei das gewesen, im Fahrstuhl, in einem ganz feinen Hotel mit roten Teppichen auf den Gängen."
Katharina Eyssen wurde 1983 in München geboren, wo sie auch Dramaturgie und Spielfilmregie studiert hat. Seither zahlt sie ihre Miete mit dem Schreiben von Drehbüchern. Auf Doris Dörries Rat hin - die ihre Dozentin für kreatives Schreiben war - hat sie es nun allerdings mit einem Roman versucht. "Alles Verbrecher" ist das durchaus gelungene Resultat. Eyssen lebt zur Zeit in Berlin.
Die ersten Zeilen in "Alles Verbrecher" etablieren eine Legende - die Anekdote und den Mann selbst. Maries Großvater, erzählt die Protagonistin, sprach "die Sprache aller Kneipen und die der meisten Frauen". In Leinenhosen, mit Pomade im Haar und Charme in der Stimme, ging er als sorgloser Dandy durchs Leben. Nun ist der Lebemann gestorben. Die letzten Jahre hat er in Caracas verbracht, und seine Enkelin Marie, die in München studiert, soll seine Asche vom Flughafen abholen.
Die Mittzwanzigerin nimmt das zum Anlass, um endlich einige familiäre Angelegenheiten zu klären. Sie will zum Beispiel wissen, warum die gesamte weibliche Verwandtschaft ihren Großvater seit jeher als Lügner und Verbrecher bezeichnet hat, und fordert erstmals Erklärungen für Fragen, die sie seit ihrer Kindheit verfolgen. Die Frauen in der Familie machen den Gentleman, den Marie so verehrt hat, nämlich nicht nur für sämtliche Probleme in ihrer privaten Chronik verantwortlich, sondern sind seit Generationen verbittert und verstört. Maries Urgroßmutter etwa schnitt mit Leidenschaft und spitzer Nagelschere die Gesichter ungeliebter Mitmenschen aus den Familienfotos, die Großmutter ist unter ungeklärten Umständen in der Badewanne ertrunken, und Maries Mutter hat ihre Gefühle durch jahrelanges Koksen soweit irritiert, dass sie nur mehr weinen kann, wenn Leute im Sportkanal Medaillen gewinnen, "nicht aber, wenn sie verlassen wird". "Sowas lässt sie kalt", sagt Marie.

Lena Stahl
Die Beziehungen innerhalb dieser Familie sind das große Thema in Katharina Eyssens Buch. Denn konsequenterweise landet der emotionale Ballast, der sich über drei Menschenalter angehäuft hat, auf Maries zarten Schultern. Aus ihr ist eine leicht zu verunsichernde Träumerin geworden, die sich gleichzeitig als unheimlich geltungsbedürftige und stolze junge Frau gibt. Die Autorin illustriert das immer wieder in kurzen Szenen an Maries Umgang mit Männern:
"Während er mir Rum mit Cola mischt, starre ich ihn an, ich will, dass er es bemerkt und nervös wird. Vielleicht kann ich seine Phantasie werden, denke ich. Und wenn er morgen früh aufwacht und noch nicht aufstehen will, da kann er dann an mich denken. Als ich den Becher entgegennehme, streife ich kurz seine Hand."
Strukturell wie bei Drehbüchern montiert Eyssen diese Erlebnisse der Ich-Erzählerin mit Begebenheiten aus deren Kindheit. In New York, wo der Großvater in den 1960er und 70er-Jahren gelebt hat, macht sich Marie auf dessen Spuren. Durch seine alten Freunde erfährt sie von nebulösen Geschäften, Feigheit und Untreue, in ihrer Erinnerung stiehlt sie für ihn noch einmal eine Schmuckkiste oder durchlebt die drogeninduzierten Zusammenbrüche ihrer Mutter. Und natürlich kommt es, wie es kommen muss: die pomadenverkleisterte Fassade beginnt zu bröckeln. Die Legende von Catherine Deneuve und all die anderen Geschichten, die Marie eine so wunderbare Projektionsfläche für die eigenen Sehnsüchte nach einem unabhängigen Leben boten, werden überschattet von einer wenig glorreichen Realität:

btb verlag
- "Alles Verbrecher" ist im btb Verlag erschienen.
- Eine Leseprobe gibt es hier.
"Mein Großvater war ein Lügner, ein Verbrecher, ein Betrüger, der meine Mutter und seine kranke Frau hat sitzen lassen, einer, dem man keine Briefe schicken konnte, weil man nie genau wußte, wo er wohnte. Einer, von dem nicht klar war, ob ihm vier Firmen gehörten, oder gar keine; einer, der mit den Nazis befreundet war und auf dem jüdischen Friedhof beerdigt sein will. Einer, der mir von einem Leben erzählte, das hier keiner führt."
Die genauen Umstände seiner Biographie sind inhaltlich aber gar nicht so wichtig, und auch die zitierte Erkenntnis ist nicht die Hauptsache im Buch. Sie bestätigt lediglich eine Ahnung, die die Protagonistin bereits sehr früh in der Erzählung überkommt. Marie geht es vielmehr um eine Art Aussöhnung mit der Vergangenheit, darum, die für ihre Persönlichkeit prägenden Momente anzunehmen, ohne dabei in Fatalismus oder Resignation zu verfallen. "Die Dinge passieren einfach, und dann können andere Dinge nicht mehr passieren.", quittiert die Mutter einmal ihre Passivität. Marie ist das zu wenig, weiß aber, dass sie darum kämpfen wird müssen, eines Tages nicht ebensolche Ausreden abzusondern.
Katharina Eyssens Stärke liegt damit eindeutig in der Charakterisierung ihrer Figuren und der Vermittlung von Stimmungen. Es lohnt sich, "Alles Verbrecher" aufmerksam zu lesen, die Nebensätze wirken zu lassen, und der Autorin die eine oder andere Befindlichkeitspassage zu verzeihen. Insgesamt ist ihr nämlich ein Debüt gelungen, das Lust auf mehr macht. Ihr nächstes Buch hat Eyssen bereits in Arbeit.