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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

26. 4. 2011 - 14:07

Poly Styrene 1957-2011

Die Sängerin und Texterin der großen X-ray Spex ist an Brustkrebs gestorben.

"In early 1977 London kids followed the word on the street into a club called the Roxy, where they could hear a sound the world at large would soon know all too well as punk rock. The scene was rough: as with all pop movements, it meant to separate those who had a place in it from those who didn't.
One of those with the nerve to take the stage was a schoolgirl who had given herself the wonderful name of Lora Logic. She played saxophone, an unlikely instrument for punk rock, in a group called X-ray Spex; the band was fronted by the even more unlikely Poly Styrene, an overweight teenager with braces, a mixed racial ancestry, and a screech to disinfect the Roxy toilet. Poly went on to fame and a nervous breakdown; Lora went back to school."
(Greil Marcus in New West, 1979)

Eigenartiger Beginn für einen Nachruf: Ich war gerade in Österreich und hab sie wieder einmal miterlebt, die österreichische Obsession der Doktoren und Diagnosen - in alles andere als trivialen Umständen (die mich selbst nur sekundär als Freund eines Betroffenen betreffen).

Ich weiß noch immer nicht, was besser ist.

Die österreichische Obsession oder jener Fatalismus in meinem Gastland, der einfach davon auszugehen scheint, dass das Gesundheitssystem nicht besser kann als es tut, und dass es uns alle erwischen wird, früher oder später.

Derselbe Fatalismus, den Poly Styrene auf den Lippen trug, als der Guardian sie Ende März zu ihrem Solo-Album "Generation Indigo" interviewte: "Mein praktischer Arzt hat gesagt, er war schwer zu finden", sagte sie da und meinte damit den Brustkrebs, der nur entdeckt wurde, nachdem sie selbst auf die hierzulande schwer zu kriegende Magnetresonanztomographie bestanden hatte. Den Brustkrebs, der sie schließlich das Leben gekostet hat.

Poly Styrene in der Eprovette, von vorn

EMI

Poly Styrene auf dem Cover der X-ray Spex-LP "Germfree Adolescents"

Poly Styrene wurde 53 Jahre alt, aber sie hatte all das, was sie zu Recht zur Legende machte, bereits in den ersten 21 erledigt.

1957 wurde Marian (oder Marianne, hab beides gelesen) Elliot-Said, so ihr bürgerlicher Name, im Londoner Vorort Bromley als Tochter einer Rechtskanzlei-Sekretärin und eines enteigneten Aristokraten aus Somalia geboren. Ihre Mutter zog sie alleine auf, sie zogen in eine Gemeindewohnung in Brixton, "Ghettokind" war sie aber, wie sie selbst nicht müde wurde festzustellen, noch lange keines. Trotzdem, der Entschluss aus dem wohlhabenden Bromley (einer der späteren Brutstätten des schicken Elements der Punk-Szene) wegzuziehen, hatte auch was mit der Reaktion der Nachbarschaft auf ein Kind mit gemischter Hautfarbe zu tun.

Wie so viele spätere Charaktere der Punk-Szene verbrachte Marian ihre Teenager-Jahre als herumziehender Hippie. Bevor sie ihre Band gründete, hatte sie schon als Mari Elliot eine Solo(Reggae-)Single veröffentlicht und einen hippen Marktstand im Beaufort Market in Chelsea betrieben, wo sie unter anderem dekorierte Plastiktaschen verkaufte.

Die Idee, X-ray Spex zu gründen, kam ihr, als sie in der Seestadt Hastings die Sex Pistols spielen sah. Ihr Pseudonym Poly Styrene war maßgeschneidert für ihr – eigentlich immer noch hippieskes – Lieblingsthema: die Künstlichkeit der modernen Existenz: "I know I'm artificial / But don't put the blame on me / I was reared with appliances / In a consumer society" ("Art-I-Ficial")

Es verriet im Vergleich zu anderen Punk-Identitäten wie Rotten, Vicious oder Scabies, aber auch einen vielen ihrer anderen (insbesondere männlichen) Zeitgenossen abgehenden Willen zur entwaffnenden Selbstironie, schließlich im Song "I Can't Do Anything" effektiv ausformuliert.

X-ray Spex waren, neben den Slits und den Raincoats, das nötige Gegengift zum Machismo, der sich bald im Punk breit machte.

Wer sich ein CD-Reissue oder von mir aus den Download des ersten X-ray Spex-Albums „Germfree Adolescents“ besorgt, erhält ein perfektes Bild der Band, perfekter sogar als ihre tatsächliche Geschichte.

Poly Styrene in der Eprovette, von hinten

EMI

Da ist nämlich garantiert die klassische, erste Single "Oh Bondage Up Yours! / I Am A Cliché" drauf, die im September 1977 erschien, aber auf dem mehr als ein Jahr später herausgekommenen Album eigentlich gar nicht enthalten war.

Das charakteristische Saxophon auf der Debüt-Single spielte die 16-jährige Lora Logic, die vor den Studio-Sessions für die LP aus der Band geworfen und durch Rudi Thomson ersetzt wurde (angeblich weil sie Poly zu überstrahlen drohte).

"Bondage" ist sowas wie die ewig gültige Definition des Rrrriot Grrrl-Sounds, ein heroisches feministisches Statement, das nicht nur die weiblichen Stereotypen der Rockwelt der Siebziger Jahre pulverisierte, sondern (vor allem in Verbindung mit der für sich selbst sprechenden B-Seite) auch als Kritik am neuen Konformismus der Punk-Mode zu lesen war. Schließlich liefen zu diesem Zeitpunkt bereits die Trendies in ihren Bondage-Trousers die King's Road auf und ab.

Bis zum Erscheinen von "Germfree Adolescents" wurde der Sound von X-ray Spex via Singles wie "The Day The World Turned Dayglo" und "Identity" sowohl konventioneller als auch raffinierter.

Einerseits waren da Zugeständnisse an die Ästhetik der Zeit zu hören (der supersolide Rockgitarrensound, die luftdicht komprimierten Drums), andererseits war da noch immer Polys alles durchdringende Stimme und vielversprechende neue Ansätze wie der ein paar Hysterie-Ebenen unterhalb der Standardeinstellung der Band angelegte Titelsong.

Kurz nach der Fertigstellung des Albums begann Poly Styrene zu halluzinieren. Sie wurde für schizophren erklärt und kam in psychatrische Behandlung.

Als X-ray Spex 1995 mit "Conscious Consumer" zurückkehrten (ein Album, das ich zugegebenermaßen nie gehört habe), wurde Poly von einer Feuerwehr niedergefahren. Sie erlitt einen Beckenbruch. Nach der Fertigstellung ihres Ende März erschienenen Soloalbums kam nun die Krebsdiagnose.

Musikalisch gesehen war dieses letzte Werk "Generation Indigo" ein (vielleicht allzu) bewusster Schritt Richtung zugänglicher Pop, produziert von Youth, gesungen mit einer Stimme, die in ihren besten Momenten weniger an die alte Poly Styrene als die alte Debbie Harry erinnert (zum Beispiel auf dem wunderbar glitzernden "Ghoulish", mit Viv Albertine von den Slits an der Gitarre), mit teilweise konkret politischen Texten, die manchmal ins Schwarze treffen, dann wieder daneben gehen (siehe etwa "I Luv Ur Sneakers" mit seiner Preisung des Turnschuhs als ethische Fußbekleidung, weil dafür keine Tiere sterben mussten – ohne Gedanken an die Herstellung selbigen Turnschuhs im Sweatshop; siehe aber auch "White Gold" mit seiner Systemkritik in den Strophen und dem verblüffend banalen Refrain "I wish I could fly").

Als Nachlass hinterlässt das Album ein sehr jugendliches Bild einer Frau, die viel zu lange von der Bildfläche der Öffentlichkeit (was immer das heißen mag) verschwunden war.

Zu jedem Nachruf gehört die übliche Liste der Leute, die es ohne die Verstorbene so nie gegeben hätte, und sie reicht in diesem Falle von Kathleen Hanna über Huggy Bear bis zu Karen O. Andererseits kommt schon in dem Moment, wo ich überlege, ob ich zum Beispiel Sleater-Kinney da mit reinnehme sollte, in mir die Frage hoch, ob ich nun nicht erst recht der Versuchung der Schubladisierung nach Geschlechtszugehörigkeit erliege.

Sagen wir es einfach so: Free Kitten (Kim Gordon, Julie Cafritz von Pussy Galore, Mark Ibold von Pavement und Boredoms-Schlagzeugerin Yoshimi P-We) haben "Oh Bondage Up Yours!" 1993 sicher nicht ohne Grund so enthusiastisch gecovert.

Und der Song hat im Zeitalter von Rihanna und Konsorten seine Gültigkeit alles andere als verloren.

Erst Ari Up, nun Poly Styrene, ein Verlust nach dem anderen für die lebende Punk-Geschichte.
It is a cliché, aber es gehört gesagt: Oh cancer up yours!