Erstellt am: 17. 4. 2011 - 15:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (15)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 10. April
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marc carnal
■ Ich habe kein Faxgerät und kenne auch niemanden, der eines hat.
DABEI WÜRDE ICH SO GERNE FAXEN!!!
■ Ende der Neunzigerjahre fragte man sich, welchen Sammelbegriff man wohl einst für die Jahre 2000 bis 2009 finden würde. Das Wort Nullerjahre schien naheliegend, andererseits ging man eigentlich davon aus, dass irgendeinem Schundblatt oder betrunkenen Moderator mal irgendein schales Witzchen zwischen die Zeilen rutschen und sich dieses dann, ähnlich wie "Herdprämie" oder "Jamaica-Koalition", auch durchsetzen würde.
Am Ende siegte die erste Idee und man blickte auf die besten Platten und größten Katastrophen der Nullerjahre, vereinzelt auch 2000er zurück.
Seltsam, dass sich für unzählige Haushaltsgeräte, Musikrichtungen oder historische Ereignisse in Windeseile teils elegante, teils seltsame oder viertellustige Begriffe durchsetzen und die eigentliche Bezeichnung in Vergessenheit geraten lassen, sich aber für ein ganzes Jahrzehnt gar nichts gefunden hat.
Montag, 11. April
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(c) marc carnal
■ Ich würde gerne einmal die Woche in einer ambitionierten Hobby-Fußballmannschaft spielen, in der zwar Disziplin und Ehrgeiz herrschen, aber hauptsächlich halbtalentierte Kettenraucher spielen, die nach einer Viertelstunde unter Krämpfen zusammenbrechen und mit violetten Gesichtern trotzdem weiterspielen.
Wer eine solche Gruppe kennt oder Teil davon ist, möge mich kontaktieren.
Dienstag, 12. April
■ ZIB-Kommentator Hans Bürger: Sein Name wäre eine würdige Alternative zu "Max Mustermann".
■ Heute vor sechzig Jahren glückte Juri Gagarin der erste bemannte Flug ins Weltall.
Als Kind und Trekkie malte ich mir - die grundsätzliche Rasanz menschlichen Fortschritts schon erahnend - aus, dass ich bereits im jungen Erwachsenenalter televisionärer Zeuge der ersten bemannten Marslandung werden würde.
Die aktuelle Planung der NASA sieht vor, Mitte der Dreißigerjahre zumindest Menschen in die Mars-Umlaufbahn zu bringen und erst danach eine Landung anzupeilen. Andere Raumfahrtnationen haben sich die Fünfziger zum Ziel gesetzt.
Es könnte also gut sein, dass ich den ersten Menschen am Mars nur noch im hohen Alter oder gar nicht mehr erlebe und dass sich meine kindliche Vision von meinem Besuch in der Marssiedlung, die vor zwanzig Jahren nicht so sehr aus der Luft gegriffen war wie heute, als unrealistisch erweist.
Ich finde es tatsächlich sehr bedauerlich, dass ich so viele künftige Errungenschaften, Erkenntnisse und Möglichkeiten verpassen werde.
Mittwoch, 13. April
■ Aufbetten - What is it good for?
■ Vierzehnjährige sind deshalb so schlecht und irgendwelchen seltsamen Trends folgend gekleidet, weil sie insgesamt durch die Bank unfertig, unproportional und wie von einem betrunkenen Gott geschnitzt aussehen.
Ihre Physiognomie wirkt wie ein nie in Serie gegangener Prototyp für ein menschenähnliches Wesen. Die unstimmigen und –ästhetischen Leiber von Vierzehnjährigen in tatsächlich elegante Kleidung zu hüllen, käme der viel zu auffälligen, den Makel erst recht betonenden Vertuschung gleich.
■ Rüdiger muss sterben!
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(c) marc carnal
In der Vorwoche berichtete ich, geblendet von grundloser Euphorie, über den spontanen Erwerb eines VW Käfers. Das rechts stehende Foto zeigt den malerischen Ort Deutsch Wagram. Zusammen mit dem Co-Käufer Herrn Josef, dem Besitzer des wunderschönen Café Schmid Hansl, unternehme ich einen vormittäglichen Ausflug in die nahe Kleinstadt, um das sogenannte Pickerl für unser neues Auto namens Rüdiger bei einem befreundeten Händler zu erneuern.
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marc carnal
Nach zähen Stunden des Wartens im Ortskern kehren wir zur Werkstatt zurück und ernten mitleidigen Spott.
Zwei Blinde haben im Glauben, ein Korn gefunden zu haben, die Katze im Sack ergattert.
Rüdiger ist Schrott. Durchgerostet, desolate Bremsen, Dutzende kleine Schäden.
Der Chef kommt persönlich auf uns zu, um uns auszulachen.
Wir suchen einen Sammler der charmanten Gefährte auf, der uns entsetzt ob des desolaten Käfers verscheucht.
Prompt klagen wir der Verkäuferin unser Leid, die uns im Handumdrehen der Kaufpreis rückerstattet. Es gibt durchaus edle Menschen.
Nicht besonders stolz, mit leichter Wehmut und etwas belustigt kann ich von nun an behaupten, für eine Woche Oldtimer-Besitzer gewesen zu sein.
Die Suche geht weiter. Ein Roadtrip ohne Auto ist kein Roadtrip (Ludwig Wittgenstein)
Donnerstag, 14. April
Tiburtiustag - "Kommt Tiburtius mit Sang und Schall, bringt er Kuckuck und Nachtigall." (Hä?)
■ Warum wird für handelsübliche Textverarbeitungsprogramme nicht endlich eine Handwriting-Schrift erfunden, die zwanzig oder dreißig Variationen jedes Buchstaben zufällig auswählt und sich damit tatsächlich einer Handschrift zumindest annähert?
■ Das an sich schöne Café Weidinger wurde durch eine Glaswand mit automatischer Schiebetüre entstellte, das den Nichtraucher- vom Raucherbereich trennt. Man hat den Eindruck, die entsetzlich hässliche Lugner City hätte ein Stückchen Auswurf auf das prächtige Lokal fünf Meter daneben gespieen.
■ Der Ferrari ist der Mercedes unter den Autos.
Freitag, 15. April
■ Vielleicht sollte ich mal erzählen, seit wann ich den in diesem Diarium als „der Tiroler“ apostrophierten Freund bewundere:
Vor einigen Monaten nahm ich mit dem Tiroler und einer kleinen Schar an Bekannten in einer Wohngemeinschaft nachmittags Kaffee ein. Nach einiger Zeit überkam uns Trägheit. Jeder nur annähernd vernünftige Mensch kann in einer solchen Situation nur einen einzigen Gedanken hegen, also schlug ich vor: „Spielen wir doch Verstecken!“
Mit einer absoluten Mehrheit beschloss man, meinem Ansinnen zu folgen. Zuerst musste der Gastgeber suchen und ließ den übrigen Mitspielern eine Minute Zeit, ein geeignetes Versteck zu finden. Ich nahm unter einem hinreichend behangenen Wäscheständer Platz und wurde im Handumdrehen gefunden. Auch die übrigen Teilnehmer erwiesen sich als Amateure und waren ehestmöglich aufgestöbert. Nur einer fehlte: Der Tiroler.
Nach zehn Minuten wurde es dem Sucher zu bunt und er engagierte uns alle, um gemeinsam den Tiroler zu finden. Keine Spur. Der Suchkreis wurde über die Wohnung hinaus ausgeweitet: Nichts. Als ich bereits zum zweiten Mal auf dem leeren Balkon nachsah, vernahm ich ein Ächzen. Doch wo war der Ächzer? Schließlich entdeckte ich ihn, der Ächzer in Form des Tirolers hatte sich am Balkongeländer festgehalten und baumelte in zwar nicht schwindelerregender, aber doch gefährlicher Höhe an der Hausfassade. Mit rotem Gesicht und zitternden Armen harrte der grundsätzlich sportliche Freund am Balkongeländer hängend aus, bis ich ihn schließlich endlich gefunden hatte.
Die Mitspieler waren entsetzt bis euphorisch und drängten sogleich auf die zweite Runde, mit dem Ziel, den Tiroler dieses Mal rascher zu entdecken.
Erneut verteilten wir uns. Dasselbe Spiel: Alle Verstecke erwiesen sich als untauglich, nur der Tiroler fehlte erneut. Wieder suchten wir in der Gruppe. Jede Möglichkeit des längeren Aufenthalts an der Fassade, in Rohrleitungen, Staubsaugerbeuteln, Öfen oder Kleiderschränken wurde systematisch untersucht. Nichts. Als ich schließlich das ausgesprochen kleine Toilettenfenster inspizierte, vernahm ich erneut das vertraute Keuchen. Sehen konnte ich den Absenten jedoch nicht. Doch die leidenden Laute kamen von oben.
In Runde zwei hatte uns der Tiroler erneut zwanzig Minuten lang suchen lassen, indem er sich mit gespreizten Extremitäten an der Decke der sehr hohen uns schmalen Toilette eingeklemmt hatte.
Zermürbt verzichteten wir auf eine dritte Runde.
Seitdem bewundere ich den Tiroler ein bisschen.
■ Heute könnte ich töten für einen Punschkrapfen.
("In eeeecht?"
"Nein. Nur im Spiel!")
Samstag, 16. April

marc carnal
■ Zungenbrecher-Versuche:
- Ein Turbantragender, urbaner Tubaspieler aus Uganda spielt mit seiner Tuba unter anderem in der U-Bahn Rumba.
- Seit in Außenbezirken Schurken-Türken Birken türken, würde Jürgen dafür bürgen, es zu merken, dass die getürkten Türken-Birken merkbar stärker würgend wirken.
■ Ich rauche seit einem Jahrzehnt, noch länger trinke ich Alkohol, ernähre mich nicht immer gesund, lebe in einer Großstadt und betreibe keinen Sport. Richtig schlechtes Gewissen meiner Gesundheit gegenüber hatte ich bisher aber erst einmal: Mit sieben Jahren, als ich eine beträchtliche Portion rohen, mit Tapetenkleister vermengten Salzteiges aß.