Erstellt am: 20. 3. 2011 - 15:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (11)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 13. März
■ Begräbnisfantasie: Ich möchte von Gunther von Hagens plastiniert werden. Mein Gesicht sollen die Plastinierer in detailverliebter Arbeit zu einer furchterregenden Fratze umgestalten und meine Arme mögen mit gespreizten Fingern über meinem Kopf drapiert werden. Mein erstarrter Körper soll einzig von einem Trenchcoat verhüllt werden.
Dann stelle man meine Überreste in eine Glasvitrine und diese auf den Zentralfriedhof. Einige Meter vor meiner letzen Ruhestätte bringe man Bewegungsmelder an. Immer, wenn Friedhofsbesucher mein Grab passieren, möge ich in grellen Farben illuminiert werden und aus Lautsprechern sollen billige Geisterbahn-Sounds erschallen.
In den Grabstein zu meinen Füßen meißle man "Er war sehr gut."
■ Romanidee, Folge 312: King Kong kommt nach Wien. Der städtische Kammerjäger wird beauftragt, ihn zu töten, weil in der Verfassung steht, dass bei Bedrohung durch Ungeziefer aller Art der Kammerjäger zu konsultieren ist. Der weiß natürlich nicht, wie er den Riesenaffen besiegen soll und versucht, Zeit zu schinden. Es folgt eine zweihundertseitige Bürokratie-Groteske. Am Ende geht der Affe einfach wieder. Aus Langeweile. Die Wiener Version eines Katastrophenfilms.
■ Schöne Beispielsätze aus dem Wörterbuch der deutschen Idiomatik:
"Der Kerl hat uns in die Stiefel geschissen, der ist für uns gestorben."
"Der Spieß trat Abiturienten besonders gern auf den Sack."
"Erst saufen wie ein Schlauch und dann Autofahren - kommt nicht infrage, mein Lieber!"
"Mein Chef verlangte von mir, dass ich wie eine gesengte Sau schreibe."
Montag, 14. März
Internationaler Aktionstag gegen Staudämme - Im Notfall auch ein Grund zum Feiern
■ Die erste Frühlingssonne hat eine bemerkenswerte Kluft zur Folge, was die Kleidung betrifft. Eine sogenannte Kluft-Kluft. Während einige Vernünftige den warmen Temperaturen gemäß eher leichte Stoffe wählen und sich frohgemut am Lenz erbauen, kleiden sich viele stur nach Monaten. Selbst bei milden achtzehn Grad schwitzen sie eisern in ihren Daunenjoppen und ziehen sich trotzig die Stirnbänder noch tiefer ins Gesicht. Es ist ja schließlich noch Winter, und im Winter trägt man Wintergewand.
Hawaiihemden neben Wollschals - ein untrügliches Zeichen für den Frühlingsbeginn.
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marc carnal
Dienstag, 15. März
Tag der Rückengesundheit - Ich war dabei!
■ Wer Zerstreuung anstrebt oder einen Künstlernamen sucht und ein Handy der Marke Nokia besitzt, möge seinen Namen ins T9-Wörtbuch eingeben und sich am generierten Vorschlag ergötzen. Ich heiße Marc Barock.
■ Ich war mal in der Eisriesenwelt. Ist aber schon lange her.
■ Unpünktlichkeit wohnt so manchem einfach inne. Man muss sich in Akzeptanz üben. Am besten bestellt man chronisch Unpünktliche eine halbe Stunde zu früh, um sich gleichzeitig am vereinbarten Treffpunkt einzufinden. Irgendwann durchschauen die Zuspätkommer den Kniff und verspäten sich erneut. Man weitet die Taktik aus und kommt selbst erst eine Stunde nach der fixierten Uhrzeit.
Dieses Spiel läuft irgendwann aus dem Ruder. Manche meiner Freunde kommen mittlerweile schon einen Tag später, um meine nur temporär erfolgreiche Gleitzeit-Strategie zu unterwandern.
Irgendwann gibt man auf und beginnt wieder bei null, nimmt erregende Lektüre mit und wartet resignierend.
Mittwoch, 16 März
■ Chips sind Idiotenessen!
Ich zögere nicht, eine Bonus-Feststellung nachzuschießen:
Eis ist ebenfalls Idiotenessen!
■ Mein Kind,
Hier vor der Ausfahrt Salzburg Nord
wird man dich bald schon finden.
Dann war es Weitblick und nicht Mord,
denn du sollst Städte gründen!
■ Man müsste eigentlich so konsequent sein, sämtliche Facebook-Kontakte zu löschen, die mit ihrem Profilbild als "Botschafter gegen Atomkraft" auftreten.
Donnerstag, 17. März
■ Zwischen Dschungel und Duschgel gibt es, im Gegensatz zu den Begriffen, sehr viele Unterschiede.
1. Der Dschungel kostet mehr als 2,99
2. Im Duschgel leben keine Giraffen
3. Im Dschungel leben ebenfalls keine Giraffen
4. Man wird auf der Kärtnerstraße nicht von Irren mit Mappen belästigt, um für Duschgel zu spenden
5. Der Dschungel ist für Männer und Frauen gleich
■ Tonnenschwere Müdigkeit. Jeder Wimpernschlag ein Kampf gegen die Bewusstlosigkeit.
Bewegung, Zitronensaft, Frischluft - Nach zehn Minuten ist wieder alles auf Standby.
Kaffee, das schwarze Gold! Ich will das Verwöhnaroma, denn Geschmack BRAUCHT Koffein! Du seiest gebenedeit unter den Getränken!
Cola, Göttertrank! Wie konnte ich dir jemals untreu werden! Erst durch das Verbot wurde mir dein majestätischer Reiz wieder gewahr!
Schwarztee, Geschenk des Himmels. Verzeih die stiefmütterliche Ignoranz.
Freitag, 18. März
■ Heute nähte ich wieder einmal ein Nervenkostüm mit meinem Daumenkino. Das geht so:
Jenes Gässchen, auf welches ich von meiner Wohnung aus blicke, ist ein LKW-Bermuda-Dreieck. Vor über einem Jahr beobachtete ich erstmals, wie ein überaus langer Lastwagen meine Häuserfront passierte, um einige Meter danach, am Ende der Gasse, stehen bleiben zu müssen. Zu recht war der Winkel, um abzubiegen. Nun musste der arme Trucker wieder zurückfahren, um zu erkennen, dass auch ein rückwärtiges Einbiegen in eine erheblich großzügiger dimensionierte Gasse nicht möglich schien.

marc carnal
Ich schenkte mir Brause ein und genoss das Schauspiel. Immer wieder versuchte der äußerst präzise manövrierende Lenker im Rückwärtsgang in die rettende Straße einzubiegen. Es wollte einfach nicht gelingen.
Unzählige Passanten und Anrainer boten Lebenserfahrung und geometrische Fachkenntnisse an, um dem bedauernswerten Fernfahrer die Weiterfahrt zu ermöglichen, bis schließlich der umsichtige Trafikant am Eck die Nuss mit Verve und Bedacht knackte, indem er ein hinderliches Verkehrsschild entfernte.
Ich dagegen weidete mich lediglich an der Verzweiflungs-Performance vor meiner Haustüre und hielt das gesamte Slow-Motion-Spektakel fotografisch fest.
Einige Monate später befand sich erneut ein ellenlanges Gefährt in der selben misslichen Lage. Die Trafik hatte geschlossen, wo des Rätsels Lösung eigentlich gehütet wird. Nach einer Stunde wurde die Polizei zu Rate gezogen, doch auch die grübelnden Beamten errieten das zentimetergenau auszuführende Manöver nicht. Irgendwann keimte Hilfsbereitschaft in mir auf.
Ich druckte meine zahlreichen Fotos aus, heftete sie zusammen und konnte dem begeisterten Lenker wie den beleidigten, weil overrulten Polizisten ein hilfreiches Daumenkino präsentieren, mit dessen Hilfe die Befreiung des kolossalen Gefährts gelang.
Dieses liegt seitdem stets griffbereit, und so konnte ich auch heute wieder einen desperaten Chauffeur tonnenschwerer Fracht retten.
Samstag, 19. März
■ Ein schlimmes und ein schönes Wort.
Schlimm: Paprikanisieren
Schön: Oologie (Vogeleierkunde)
■ Am Praterstern sitzt ein um jedes Mafiaklischee bemühter, mit den Vokabeln unverbraucht und schlank absolut unzutreffend beschriebener Herr mit Sonnenbrille und entsetzlichem Raucherhusten in der U-Bahn-Station und weist mit krähender Stimme, die vom jahrelangen und auch in dieser Nacht praktizierten routinierten Umgang mit hartem Alkohol zeugt, seinen Telefongesprächspartner unaufhörlich an, sofort, so schnell wie möglich, aber wirklich auf der Stelle die Adresse, NEIN, NICHT DIE TELEFONNUMMER, DIE ADRESSE der Ströck-Zentrale im zwanzigsten Bezirk zu eruieren.
Man sollte viel öfter Fremden folgen, um nicht einen ganzen Tag zu grübeln, was der wohl dort wollte.