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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

13. 3. 2011 - 15:00

Tagebuch zum Jahr des Verzichts (10)

März: Koffein

marc carnal

2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.

Sonntag, 6. März

■ Erwache nackt, verklebt, verwirrt und bringe kein Wort heraus. Es ist viel zu hell und kalt. Keine Ahnung, wo ich bin. Fremde Stimmen, alles ist viel zu laut.
Mit anderen Worten: Ich fühle mich wie neugeboren.

■ Elegante Satzbildung gehört im Knigge anscheinend nicht zum guten Ton:

„Den ersten Platz beim guten Benehmen macht mit 97,8% das Bedürfnis, andere im Gespräch ausreden zu lassen, aus.“

Ein Bedürfnis, das mir übrigens fremd ist.

Montag, 7. März

Tag der gesunden Ernährung - Wieder einmal nicht gefeiert

■ Christoph Waltz im GQ Magazin: „Wissen Sie, Kind, das bedeutet ja nicht nur: niedlich, unschuldig, spielerisch, kreativ, offen, lebhaft. Je nach Entwicklungsphase ist ein Kind tyrannisch, irrational, egoistisch, ungeduldig, lustbetont, unkooperativ, geltungssüchtig.“

marc carnal

■ Sie eilen, schlendern, wanken, taumeln, sprinten, hinken oder gehen einfach nur. Schreiten sieht man Fahrgäste allerdings kaum. Schreiten zeugt von Stolz, Überlegenheit, Eleganz und Hochmut. Nur bei Einweihungen neuer Stationen oder zur Demonstration von Volksnähe im Beisein von Kamerateams trifft man Könige, Mäzene, Adelige, Kammersänger oder Oligarchen im öffentlichen Nahverkehr an. Die mögen inbrünstig schreiten und haben auch allen Grund dafür. Aber unsereins? Der Pöbel drängt sich gedemütigt in die unterirdischen Proletenschläuche und schreitet dabei doch nicht!

Dienstag, 8. März

Internationaler Frauentag - Ich war dabei

■ Die häufige Nachmittagsmüdigkeit bekämpfe ich anstelle von Kaffee zurzeit mit einem Schläfchen. Um nicht versehentlich bis zu später Stunde in Morpheus’ Armen zu ruhen, bediene ich mich der „manuellen Schlummerfunktion“. Um meinem ermatteten Geist die ideale Dosis an Ruhe zuzuführen, lege ich mich auf das Kanapee und lasse dabei einen Arm in entspannter Haltung in der Luft baumeln. Mit der Hand jenes Armes halte ich einen stattlich bestückten Schlüsselbund fest umklammert. Sobald ich zu tief einzunicken drohe, erschlafft meine Hand, der Bund fällt tosend auf den Boden, ich erwache schlagartig und bin nach diesem kleinen Vital-Nap in prächtiger Verfassung, ohne länger Koffein zu begehren.

■ Was ich alles nicht kann, aber gerne können würde:

Schach
Angeln
Trompete
Nein sagen (höhö)
Laut pfeifen
Fisch zubereiten
Im Tor stehen
Das Plopp bei Lollipop
Gesellschaftstanz
Beeindruckender Kartentrick
Spiegelverkehrt lesen
Holländisch
Nähen
Hemden bügeln
Billard
Getränkedose mit einer Hand zerdrücken
Lateinische Zitate aus dem Ärmel schütteln
Schielen
Massieren

Mittwoch, 9. März

■ Es ist faszinierend, dass selbst halbtote, völlig weggetretene, manchmal gar dösende Junkies, aber auch blunznfette Zechbrüder, die schnarchend vier Sitze verschwenden, in öffentlichen Verkehrsmittel trotz ihrer komatösen Verfassung fast immer bei der richtigen Station auszusteigen scheinen.

■ Kabarett: Zweihundert Menschen zahlen jeweils zwanzig Euro, um zwei Stunden lang eine Zusammenfassung ihrer eigenen drögen Ansichten zu beklatschen.

Donnerstag, 10. März

■ Ich habe fast nie Lust auf Cola, weil das klebrige Gesöff nicht gut schmeckt, außer ab und an mit viel Eis bei dreißig Grad im Strandbad. Seit ich auf Koffein zu verzichten habe, möchte ich immer wieder Cola trinken.
Das ist seltsam, denn auch Steuerhinterziehung oder schwere Nötigung sind mir seit jeher verboten, ich sitze aber selten zu Hause, beiße mir in die Faust und sehne mich danach, auf der Stelle Steuern zu hinterziehen oder mal schnell jemanden schwer zu nötigen.

■ Google findet für „leichte Nötigung“ satte 137 Ergebnisse.

Florian Graßecker

■ Seit einer Woche übernachten die wilden Haudegen von Being Markovic im Café Schmid Hansl, um sich rund um die Uhr auf ihren exklusiven Volksmusik-Gig vorzubereiten, der am Donnerstag, den 17. März stattfinden wird und für den sich alle, die für Element of Crime zu langsam waren oder den Autor dieser Zeilen beim Kampf Mensch gegen Akkordeon scheitern sehen wollen, rechtzeitig Karten sichern sollten!

Freitag, 11. März

■ Es ist ein Fehler, überall immer mit den Grundlagen zu beginnen. So beeindruckt man erst nach jahrelanger Mühe. Mein Geheimtrick ist, in vielen Disziplinen mit dem Schwierigsten zu beginnen und auf den lächerlichen Anfänger-Kram zu pfeifen.

Ich beherrsche beispielsweise die Krähe, eine Yoga-Übung, bei der man auf den Händen steht und die Knie neben den Ellenbogen in Position bringt. Diese führe ich im Kreise der Liebsten in gewissen Stunden gerne vor und ernte dafür nicht nur frenetische Ovationen, sondern gaukle so auch weniger guten Bekannten vor, ein begnadeter Turner zu sein.
Zwei, drei recht komplizierte Gerichte bereite ich mit Bravour zu, ohne im Grunde wirklich gut kochen zu können. Für eine Vielzahl eroberter Frauenherzen und schmachtender Freunde reichte diese Fertigkeits-Simulation aber allemal.
Am Akkordeon beherrsche ich zwei recht anspruchsvolle Stücke, für die ich ausnahmsweise wochenlang diszipliniert übte. Jeder Laie verehrt mein Spiel bei einer Kostprobe, solange die Darbietung nicht länger als zehn Minuten gewünscht wird.

Das ich diese perfide Taktik hier öffentlich mache, wird meinem Ansehen kaum schaden, schließlich wird und soll niemand erahnen, in welchen Bereichen ich damit sonst noch so reüssiere!

■ Erlaube mir nüchterne, teils flapsige Bemerkungen über die Umweltkatastrophe in Japan und ernte prompt heuchlerische Kritik.
Warum sollten mich derlei Ereignisse betroffen machen? Sie betreffen mich ja nicht. Bilder von Flugzeugen in Hochhäusern oder gigantischen Flutwellen sind atemberaubend, faszinierend, von mir aus erschreckend. Ich kenne aber niemanden, der im fernen Japan weilt, kann also kein Todesopfer beweinen. Jedes einzelne Opfer ist an sich bedauernswert, aber nicht mehr oder weniger als jeder andere AIDS-, Krebs-, Lawinen- oder Todesschwäche-Tote.

Es ist wesentlich zynischer, einem Todes- oder Schicksals-Ranking folgend Trauer zu mimen, als über folgenreiche Ereignisse zu scherzen. Der Schrecken, egal welcher, lässt sich am besten mit Humor ertragen.
Solidaritäts-Kerzen, Mitleids-Märsche, Fern-Kondolenz – Hat noch nie irgendjemandem geholfen. Vernunft und Spenden dagegen sehr wohl.
Westeuropäisches Geseiere hat keinen humanen 9/11-Verlust ungeschehen gemacht und keinen folgenden Terror-Anschlag verhindert.

Hundert, Zehntausend, Hunderttausend – uninteressante Zahlen, die Gesamtbevölkerung bleibt groß. Menschlicher Irrsinn und Naturgewalt existieren und fordern Tribut. Sehen, staunen, Lehren daraus ziehen, Leidtragenden helfen und verhindern, dass sich Vergleichbares wiederholt: Die Katastrophen-ToDo-Liste. Der Tod an sich wird dagegen nicht bedauernswerter, weil er auf einen Schlag eine größere Menge ereilt hat. Das tut er nämlich seit Jahrtausenden und wird auch nicht damit aufhören.

Samstag, 12. März

Nationalfeiertag von Litauen und Mauritius - Prost!

■ Möchte man das schlechte Bildungssystem der USA tadeln, illustriert man dies meistens mit dem Beispiel, Amerikaner wären kaum bewandert in europäischer Geographie und Geschichte, Moldawien und Luxemburg seien ihnen Jacke wie Hose und in ihrer Sommerfrische – „Woohoo, let’s do Germany!“ – würden sie sich nach der nächsten Live-Performance des Fuhrers erkundigen.
Ich bin überzeugt, dass ebenso wenige Europäer mehr als zehn Bundesstaaten benennen und lokalisieren können und dass auch hierzulande die historischen Eckdaten des gescholtenen Landes nur einer Minderheit geläufig sind.

■ Den Erdnussdosen-Haltbarkeits-Hinweis "siehe Eindruck" hätte man mit etwas gutem Willen auch gegen einen unmissverständlichen ersetzen können.