Erstellt am: 7. 3. 2011 - 21:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (9)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenten Gruppendruck unter den Mitstreitern.
Sonntag, 27. Februar
■ Gewagte Prognose: Das Internet wird demnächst von einem neuen Medium abgelöst. In zwanzig Jahren gilt private Internetnutzung gar als verschroben.
Ich glaube zwar nicht an meine Prophezeiung, stehe damit aber wenigstens ziemlich alleine da, gölte also im Falle ihrer tatsächlichen Erfüllung als Visionär. Diese Chance will ich mir nicht entgehen lassen, deshalb schreibe ich erneut: Das Internet ist schon demnächst von gestern!
■ Leicht übertriebene Morgenschiss-Schilderung
Böser Schmerz – ich schreie, winde
mich in meinen Laken,
bis ich unter furchtbar starken
Schmerzen dann im Klo verschwinde.
Doch mein Schließmuskel verschließt sich,
mein Bauch beginnt, sich aufzublähen
und unter qualverzerrtem Krähen
platze ich, mein Kot ergießt sich
auf die Fliesen meines Klos.
Dunkelgrünlich-braune Wände -
nein, es ist noch nicht zu Ende,
geht vielmehr erst richtig los.
Meterhohe Kotfontänen
zerfetzen meinen Leib von innen,
und von meinen Wangen rinnen
große, dicke, heiße Tränen,
die sich mit dem Sud vermengen.
Fäkale Salven, dicke, steile,
reißen mich in tausend Teile,
drohen, den Abort zu sprengen.
Kleine Pause. Und dann bläht sich
einmal noch mein Ranzen auf
und entlädt sich. Kurz darauf
falle ich und alles dreht sich.
Ich sehe nichts mehr und versinke
langsam in dem zähen Pfuhl,
bis ich dann von meinem Stuhl
ganz bedeckt bin und ertrinke.
Montag, 28. Februar

marc carnal
■ Verfasse für das Landjäger Magazin den unsympathischsten Aufsatz aller Zeiten, der seitenlang meine eigene Schönheit beschreibt. Schon die ersten Zeilen gehören verboten:
Ich bin wunderschön.
Meine güldenen Locken zieren eine Denkerstirn, deren verspieltes Relief gleichsam von Weitsicht und juvenilem Überschwang zeugt. In sattem Königsblau glimmen meine Augen, die heute vor Leidenschaft, morgen vor Melancholie leuchten. Stolz prangt meine Adlernase im Wind zwischen meinen satten Wangen, die einem Schnitzmesser zu entstammen scheinen, das mit Verve, Entschlossenheit, Zartgefühl und Bedacht von einem Meister seiner Zunft geführt wurde. Die Zähne sind kräftig wie Elfenbein und weiß wie Schnee.
Zusätzlich veredelt wird mein vollkommenes Antlitz durch einen makellosen Körper. Kräftige Schultern gehen stimmig in drahtige Arme und zärtliche Klavierfinger über, ein unbeugsamer Rumpf führt zu einem schlanken, fordernden Becken, das ein ausnehmend stolzes Glied beherbergt, um schließlich in stählernen Beinen zu münden.
Dienstag, 1. März
■ Ich fahre nicht Ski, weil ich unter Bindungsangst leide.
■ Der Verzicht auf Koffein ist für mich der bisher härteste. Während die Abstinenz im Jänner zwar manchmal in sozialer Hinsicht schwierig, grundsätzlich aber erholsam war und der Februar außer zwischenzeitlicher Anspannung mit links zu absolvieren war, quält mich die Aufputschungs-Enthaltsamkeit durchaus. Ich trinke seit rund fünfzehn Jahren täglich Kaffee. Anfangs war mir nur eine kleine Dosis vor der Schule gestattet, dann fand ich Gefallen am Espresso zwischendurch, mittlerweile trinke ich rund fünf Tassen täglich. Dazu kommen manchmal koffeinhaltige Brausen oder Schwarztee.
Der erste Weg des Tages führt mich stets zur Kaffeemaschine. Alleine der Duft des köstlichen Tranks bedeutet das Ende der Schlummerfunktion meiner Lebensgeister.
Zwei Kaffee, drei Zigaretten, einmal lüften – Ein Frühstück für Götter.
Am heutigen Morgen ist dieses Ritual seiner schönsten Komponente beraubt. Als Substitut kredenze ich mir einen kalten Gaugau, der mich in keiner Weise zufrieden stimmt.
Die ersten Stunden des Tages sind von leichten Kopfschmerzen und dumpfer Müdigkeit geschmälert. Erst am frühen Nachmittag komme ich unter Zuhilfenahme von Bewegung und Zucker auf Touren.
Mittwoch, 2. März
■ Neue Straßenbahn - Subkultur entdeckt: Alte Männer, die bei jeder Station grundlos die Türe aufdrücken. Diese pensionierten Neurotiker immer!
■ Besuch in der Bonbonniere Bar. Touristen zu empfehlen, die Österreich begreifen möchten.
Auf engstem Raum wurden sämtliche Plüsch-Überschüsse von Wien verarbeitet. Gedämpftes Licht, fast an jedem Tisch Flaschenweise Sekt, Zigarettenrauch, Gemurmel. Die grinsende Fratze der Wirtin zeugt vom nahenden Wahnsinn und dem einen oder anderen Spitzerl zu viel. Kleines Bier: Sechs Eulen. Die Homosexuellenquote ist demographisch nicht repräsentativ.
Doch man investiert in einen knusprigen Abend: Pünktlich um neun betritt ein Pianist das Etablissement, dem bei einem Rowan Atkinson – Lookalike-Wettbewerb ein Stockelplatz sicher wäre. Mr. Bean tut, was ein Barpianist eben zu tun hat: Sein schier unerschöpfliches Repertoire bereitwillig den fragwürdigen Wünschen des Auditoriums zur Verfügung stellen.
Ein beleibter Opernsänger erhebt sich und seine Stimme und gibt ihm ein Zeichen.
Dein ist mein ganzes Hääääärz!
Wo du nicht biiiiist, kann ich nicht seiiiiin.
Sooooo, wie die Blume welkt,
wenn sie nicht küüüüüsst der Sonnenscheiiiiiin!
Da steht plötzlich Chefboss Stenzel in der Türe! Der Opernsänger schafft es erst im vierzehnten Anlauf, das allgemeine Munkeln zu beruhigen, begrüßt die „liebe Frau Bezirksvorsteherin“ mit lobenden Worten und widmet ihr sein folgendes Lied, um erneut den Lehar-Evergreen anzustimmen.
Deiiiiiin ist mein schönstes Liiiied,
weil es alleiiiiin aus der Liebe erblüht.
Sag mir noch eiiiiiinmal, mein einzig Lieb,
oh sag noch einmal mir:
Ich haaaaaab dich liiiiiieb!
Chefboss Stenzel zeigt sich nur mäßig beeindruckt und wird im Folgenden von den Anwesenden umgarnt, die allesamt sehr nach einem entbehrungsarmen Leben voller Operette und Champagner aussehen. G’schamster Diener, küss die Hand!
Der Opernsänger steht immer öfter auf, um sein umfangreiches Organ zum Einsatz zu bringen. Wenn er gerade nichts singt oder die homoerotische Runde am Nebentisch hysterisch kichert, hört man immer wieder Wortfetzen der Bezirkschefin, die auch im halbprivaten Kreis anscheinend nur ein Thema zu erörtern weiß, nämlich dröhnende Innenstadtlokale und deren viel zu späten Sperrstunden, und außerdem verboten schlecht gekleidet ist.
Just in dem Moment, als ich Spekulation wage, der Bürgermeister wird auch demnächst eintreffen, kommt Laura Rudas durch die Tür gepurzelt.
Zu viel des Guten. Zeit zu gehen. Aber: Bonbonniere Bar, ich komme wieder!
Donnerstag, 3. März
■ Kaufe in meiner Verzweiflung koffeinfreie Kaffee-Tabs in der Hoffnung, durch das Aroma am Morgen vielleicht einen kleinen Placebo-Effekt zu erreichen.
Beim Kaffeehausbesuch ordere ich gleich mehrere Runden entkoffeinierten Türkentranks und werde vom Personal dafür zehnmal so schief beäugt wie im Jänner für ausführliche Saftrunden.
■ Gibt es im Innviertel eigentlich ein In-Viertel?
■ Helmut Krausser – „Die letzten schönen Tage“: Großes Tennis. Krausser schreibt in seinen jüngsten Romanen routiniert im besten Wortsinn, soll heißen: Er muss seine vielseitige Sprachgewalt nicht mehr beweisen, sondern setzt sie in homöopathischen Dosen ein. Die früher seitenlangen, aber dem Lesefluss nicht immer zuträglichen Passagen sind auf elegant eingewobene Bonmots reduziert und fügen sich in einen gewohnt rhythmischen Text ein, der die typische Krausser-Sogwirkung schnell entfaltet.
Der Geschichte ist bestechend raffiniert aufgebaut und birgt genug verblüffende Wendungen, um nach der Lektüre der letzten Seite gleich wieder von vorne beginnen zu wollen, um die unzähligen Finten und Hinweise besser verstehen zu können, die das erzählerische Fundament für ein fantastisches Finale bilden.
Hurrah, der Meister kann es immer noch!
Freitag, 4. März
■ Außer mit hat nur noch ein Mitglied der Neigungsgruppe Verzicht das bisherige Programm ohne Vergehen absolviert.
Frau Wurm hat im Februar einmal masturbiert, und das gleich am ersten des Monats. Herr Wurm hat ebenfalls einmal, und zwar am zweiten Februar gegen das Gelübde verstoßen. Eigentlich charmant.

sophie landerl
■ "Kränkelst du?"
"Nein, ich genesele."
Samstag, 5. März
■ Nachdem ich kein klassisches Hobby habe, beginne ich nun mit Origami. Dafür muss man sich nicht schämen und hat immer Geburtstagsgeschenke. Ein kleines Problem könnte höchstens noch werden, dass mir das Falten von Papier keinerlei Vergnügen bereitet.
■ Natürlich geh ich zum Hofer mit einem Billa-Sackerl! Dann wissen die, dass ich es mitgenommen habe. Aber die Leut verstehn das nicht.
"Hä? Du gehst zum Hofer mit einem Billa-Sackerl?" fragen sie mich. Und ich muss es IMMER WIEDER erklären! Fix nuamoi...
■ Zweitausend Worte sagen oft mehr als tausend Worte.