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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

13. 2. 2011 - 14:08

Tagebuch zum Jahr des Verzichts (6)

Februar: Masturbation

marc carnal

2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.

6. Februar
Tag der Samen - Muss diesen Februar leider ausfallen

■ Schreibe aus Freude am Frühlingswetter eine Art Lehrgedicht in Sonettform mit Selbstreferenz auf die Bestandteile derselben.

Freizeit-Sonett

(Erstes Quartett)
Der LKW hat zehn Zylinder
und gilt als heiße Aktie, denn
der Lastkraftwagen ist nicht minder
kräftig als der Citroën.

(Zweites Quartett)
Und nachdem die erste Runde
allen wunderbar gefiel,
verbringen wir noch eine Stunde
mit dem schönen Kartenspiel.

(Zwei Terzette)
Beim Vergleichen all der Autos
ist die Zeit recht rasch und lautlos
und leider unbemerkt verstrichen.

Das ist schade, denn ich hätte
Karten für zwei Streichterzette
und diese auch ganz gern verglichen
.

7. Februar

■ Wer das nächste Mal den drögen Evergreen vom Essen als Sex des Alters nachbetet, möge einen Altenpfleger oder Zivildiener seines Vertrauens fragen, wie bunt es die Senioren in Wirklichkeit treiben. Eine kurze Unachtsamkeit des Personals hätte in jedem Altersheim eine geriatrische Swingerparty zur Folge.

■ Kollege Stasny merkt an, er fände es immer seltsam, wenn Schlagersänger wie die fantastische Daliah Lavi deutsche Texte interpretieren, obwohl Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.
Meinen Einwand, dass unzählige deutsche Bands auf Englisch singen, muss er als berechtigt akzeptieren.

kronen zeitung

Der "Poet" Wolf Martin meint: Zigaretten machen schlau.

■ Um vom Masturbationswunsch etwas Ablenkung zu finden, erkunde ich mit dem Tiroler das Währinger Nachtleben. Wir entdecken das Lokal "quattro" auf der Währingerstraße. Eine Art Nachtasyl der Vorstadt. Die Gäste geben sich alle Mühe, ihre numerische Bescheidenheit durch Maßlosigkeit zu kompensieren.

Die eigentliche Sensation stellt eine digitale Jukebox dar. Für einen Euro kann man sich heiße vier Nummern wünschen, die zuvor aber mit 56K-Speed aus dem Internet geladen werden müssen.

Der Tiroler und ich entwickeln sofort eine Art umgewidmete Spielsucht und werfen Haus und Hof in Form von Euromünzen in den trägen Apparat. Schnell werden militärische Regeln aufgestellt. Ein sogenanntes Vierer-Abo beinhaltet drei Eigenwünsche und einen Fremdwunsch. Die uns umringenden Rauschkugeln beteiligen sich mit Begeisterung. Die teilweise zehnminütigen Download-bedingten Pausen werden genützt, um die folgenden Songs zu erörtern.

Wir beschließen, von nun an so oft und exzessiv wie möglich für ein paar Vierer-Abos das schäbige Kellerlokal aufzusuchen. Durch die verhältnismäßige Kostspieligkeit dieses mp3-Player-Gegenentwurfs wird Musikkonsum zu einem äußerst bedacht absolvierten Freizeitpläsiers.

8. Februar

■ Endlich eine gute Geschäftsidee!
Immer wieder trieze ich meine Umgebung mit Erfindungen und Geschäftsideen und werde dafür verspottet. Um sie patentieren oder gar zu produzieren zu lassen, fehlt mir stets das Geld.
Schon vor Jahren erdachte ich ein Kirschkernweitspuckrohr, das mittels einer Membran am Rohrende die Geschwindigkeit der Kerne misst, die Jugendliche hinein speien. Bestimmt wäre das kleine Unterhaltungsutensil der Burner bei Großveranstaltungen gewesen. Mit der Zeit wäre am Mittagstisch nicht mehr gesprochen, sondern schweigend um die Wette in das Heiterkeits-Erzeugungs-Rohr gespuckt worden. All die ignoranten und engstirnigen Lebensmenschen rings um mich verleideten mir aber meine Vision mit der Zeit.

Kurz darauf erfand ich eine Freisprecheinrichtung für Autofahrer. Anstatt das Handy irgendwo umständlich einzustöpseln, erlaubte meine Konstruktion erstens uneingeschränkte Mobilität und war kinderleicht zu bedienen. Kurz: Ich dachte an eine Art Helm, in den man den mobilen Fernsprechapparat einfach in Ohrnähe hineinsteckt. Sämtliche Hinweise von Freunden (unpraktisch/ hässlich/ gefährlich/ idiotisch) ignorierte ich, war aber trotzdem etwas geknickt.

Auch eine Lügen-Agentur im Internet hielt ich einst für den besten Weg zur Finca auf Mallorca. Nachdem andere Narren damit reich werden, Probleme feilzubieten, wollte ich alles von kleinen Notlügen (1 Euro) bis zu Lebenslügen (1500 Euro) feilbieten. Befreundete Webdesigner straften meinen Enthusiasmus mit Fassungslosigkeit und eisigen Blicken.

Die romantische Idee eines Transportunternehmens, das sich ausschließlich auf den Versand kleine Mengen von Styropor innerhalb Wiens spezialisiert, darf dagegen zu Recht verlacht werden.

Doch heute hatte ich einen unspektakulären, mäßig originellen und keinesfalls revolutionären Einfall, den ich dennoch in die Tat umsetzen muss, schließlich gibt es "das" in "dieser Form" noch nicht.
Erzähle meinen Plan Auserwählten aus möglichst unterschiedlichen Ecken. Niemand findet ernsthafte Einwände. Gutes Zeichen.
Hurrah, endlich Startup-Shootingstar!

■ Die Abstinenz im Jänner brachte mitunter einen Zeitgewinn von mehreren Stunden pro Tag. Der aktuelle Verzicht höchstens zwanzig Minuten.

9. Februar

■ Sterbliche Überreste:

Der Henker ist sicher, es wäre das Beste,
man hänge die Sterblichen Überreste.

marc carnal

Wenigstens in Ottakring wird Fälschungssicherheit noch ernst genommen. "Natürlich kann man ein paar Zahlen auf ein Blatt Papier drucken. Aber WELCHE, das ist die Frage!", gibt ein gewiefter Gastronom zu Protokoll.

■ Wippende Ärsche, windschiefe Fratzen, sabbernde Mäuler, wüstes Brüllen, irres Seufzen.

Streng nüchtern betrachtet ist Sex affig, primitiv, lächerlich, peinlich und unästhetisch.

Glücklicherweise sieht man das nicht so, wenn man gerade Sex hat.

10. Februar

■ Schwänze mit meiner heimlichen Schwimmpartnerin wegen Überfüllung die wöchentliche Ertüchtigung und nehme mit ihr stattdessen am Brunnenmarkt, wo man nur mehr im Winter vom Geschnatter des Naschmarkts sicher ist, Kaffee ein. Er schmeckt entsetzlich.
Dass es in Wien allerorts unzählige Arten der Kaffeezubereitung gibt, ist ein Gerücht aus Fremdenführern für deutsche Studenten und amerikanische Touristen.

Die durchschnittliche Wiener Gastronomie kennt wie der gemeine Wiener Bohnenfreund den großen und kleinen Brauen, die Melange, den Espresso, den Verlängerten und den Cappuccino.

Ich habe noch nie jemanden bei der Bestellung eines Einspänners, Fiakers, Kapuziners, Franziskaners oder Biedermeiers ertappt. Diese Kreationen finden sich in Wahrheit nur in den Karten ganz weniger und überteuerter Kaffeehäuser, damit die Leute irgendwas zu erzählen haben, wenn der Urlaub vorbei ist.

■ Der letzte Eintrag beginnt mit "Schwänze". Und das im Februar!

11. Februar
Europäischer Tag des Notrufs 112 - Man findet immer einen Grund zum Feiern

■ Das Triumvirat der langweiligen Nacherzählungen:
- Reisen
- Filme
- Träume

■ Das Telefon läutet. Kollege Wurm ist dran. Ich höre seine Stimme glasklar. Er fragt mich, wie es mir geht. Ich antworte wahrheitsgemäß.
Im ersten Moment gehe ich gedankenlos davon aus, dass er in seiner Wohnung in Wien hockt und Zerstreuung sucht. Doch in Wahrheit trinkt er gerade Tee, und zwar alleine in einem Beduinenzelt unter einem funkelnden Sternenzelt in der Sahara.
Er ist mit seiner Freundin, zwei Kamelen und einem Einheimischen unterwegs und hat genau gar keine Ahnung, wo er sich genau befindet und würde ohne Führung wohl in der Einöde verdursten.
Es ist ein seltsames Gespräch. Kein Rauschen trübt Herrn Wurms telefonischen Gruß aus Afrika, es ist, als befände er sich im Nebenraum.
Als mir klar wird, dass ich mit einem Freund telefoniere, der sich gerade inmitten der großen Wüste von den Anstrengungen seines Fußmarschs erholt, bin ich kurz ergriffen.

Wir haben noch nicht annähernd verstanden, was die aktuellen Kommunikationsmöglichkeiten mit uns machen. Die telepartieähnliche Überwindung des Raums - ein weiterer Menschheitstraum ist erfüllt. Das Unfassbare ist Alltag.

12. Februar

■ Die trägste "Wetten, dass" - Ausgabe seit Jahrzehnten. Dass man nach dem Unglück der vergangenen Sendung nicht unbedingt einen Kandidaten antreten lässt, der versucht, mit Sprungfedern und zusätzlichem Raketenantrieb über LKW-Kolonnen zu hüpfen, liegt auf der Hand, aber muss man uns treuen Wett-Fans gleich mit einer derart lahmen Soft-Version des Samstag-Abend-Spektakels martern?
Zwei Typen versuchen vergeblich, mit einem Frisbee Kerzen zum Erlöschen zu bringen und ein Gaudimax schnippt Kraft seines vorschnellenden Ohrknorperls Bierkronen in zehn Zentimeter entfernte Maßkrüge. Da kommt selbst mir der Museums-Klassiker "Das kann ich auch" über die Lippen.

Mit Kollegen Hure entwarf ich einst die folgende Wette: Wir sitzen uns für die Dauer der gesamten Sendung in zwei Campingstühlen gegenüber und werfen uns schweigend einen Plastikball zu. Am Ende der Sendung müssen wir beide synchron ohne Absprache sagen, wie oft wir uns den Ball zugeworfen haben.
Nach dieser Sendung scheint mir das ein heißer Tipp für den Wettkönig zu sein.

Der Hauptdarsteller eines Musicals über Udo Lindenberg scheitert auf ganzer Linie am Playbacksingen, indem er den Mund einfach irgendwie bewegt. Am Ende der obendrein grotesk langen Darbietung betritt der echte Udo Lindenberg die Bühne und gibt ebenfalls eine Kostprobe aus seinem Oeuvre zum Besten. Jetzt wird klar, dass der Musical-Udo bei der Darstellung des echten einfach besonders ehrgeizig vorging, weil dieser ebenfalls überhaupt nicht Playbacksingen kann.