Erstellt am: 30. 1. 2011 - 15:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (4)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
23. Jänner
■ Tschingderassabum! Ich habe nach einer Woche ausführlichen Kopfzerbrechens endlich einen Witz mit der Pointe „Ja, wenn das Schwein gesund ist.“ erdacht, was Herr Zsutty seit einer Weile fordert:
Zwei Chirurgen führen eine Diskussion über die moralischen Grenzen ihrer Zunft.
Der eine versucht den anderen mit einem besonders heiklen Beispiel aus der Reserve zu locken: “Nehmen wir an, ein international gesuchter Kriegsverbrecher, der sich mit Kinderpornographie ein Zubrot verdient und in seiner Freizeit Frauen vergewaltigt, kommt zu dir. Würdest du ihn operieren?“
Darauf der andere: “Ja, wenn das Schwein gesund ist.“
■ Anschauliches Beispiel für Intellektuellenfeindlichkeit „Im Zentrum“: In eines Diskussion über die Gefahr von Rekordjagden im Spitzensport platzt der wie immer selbstherrliche Peter „Des loss i ma ned bieten“ Schröcksnadel bei jeder noch so besonnen vorgetragenen These des Philosophen Liessmann vor Zorn, vor allem aus Unverständnis des eigentlich gar nicht so exklusiven Vokabulars des Denkers. Am Ende bezeichnet er Liessmann als Psychologen, der immer nur polemisiere und hat, narzisstisch grinsend, auch noch das Gefühl, treffend gekontert zu haben.
■ “Die Freigabe von Kokain ist diskutabel – Ein Satz mit Kain und Abel.“
(Helmut Krausser)
24. Jänner
■ Scheidung - Soll in den besten Ehen vorkommen.
■ Ich bin also doch in der Lage, aus meinen Fehlern zu lernen.
Mein bisheriger Lebensweg war gesäumt von einem seltenen, aber doch regelmäßig, ungefähr einmal jährlich wiederkehrenden Irrtum: Ich stehe ohne Einkaufsliste ratlos in einem Lebensmittelgeschäft und zerbreche mir den Kopf darüber, was ich zu Abend essen soll. Beim Flanieren durch die mit erlesener Nahrung prall gefüllten Regale ziehe ich manch Päckchen, Säckchen und Süppchen heraus, studiere die eine oder andere Erwärmungs-Anleitung, stöbere in meinem gedanklichen Rezepte-Fundus und suche Erleuchtung im prächtigen Farbreigen der Frischkost. Doch will sich kein Gieren einstellen.
Da erspähe ich durch beschlagenes Fensterglas Gefrorenes. Plötzlich sind sowohl die Kaufentscheidung als auch ich wie vom Blitz getroffen. Mit Luftsprüngen, Pirouetten und Mehrfachsalti vollführe ich einen kulinarischen Balztanz und halte es auch sogleich in Händen: Das Schlemmerfilet!
Hm, Schlemmerfilet! Lecker lecker Fisch! Gestern noch geschwommen, heute schon zu mir genommen! In seinem Aluminiumsarg harrt der Schuppenfreund meines heißen Rachens, sorgsam eingebettet in bekömmliche, nur aus erlesenen Ingredienzien gebraute Schlemmersauce! Flugs zur Kassa. Wart wart, zahl zahl, heim heim!
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marc carnal
Zehn Minuten vorheizen, fünfzig Minuten schmoren. Verrinnen und verstreichen – In diesem Fall unpassende Verben, um die Stunde zu beschreiben, die nun zäh wie alter Honig vergeht, doch das Festmahl wird mir die Geduld lohnen.
Endlich fertig! Mit zitternden Fingern ziehe ich die Backschale aus dem Rohr, schöpfe wie im Fieber den dampfenden Fisch aus der Form, gieße die giftfarbene Pampe darüber und will mich am ersehnten Schmankerl delektieren. Und kaum ist der erste, noch viel zu heiße Bissen im gierigen Schlund, wird mir bewusst, zum wiederholten Male in die Schlemmerfilet-Falle getappt zu sein, denn der schlabberige Dreck ist in Wahrheit zum Speiben.
Auch heute hätte ich beinahe Schlemmerfilet gekauft, doch zum ersten Mal leistete mir eine vage Erinnerung an bittere Tränen der Enttäuschung einen wertvollen Dienst und ich sah von der vermaledeiten Kost ab. Deshalb bin ich glücklich.
■ Noch eine Woche, dann ist mir der Alkoholkonsum wieder gestattet. Das kommt mir nicht zuletzt deshalb gelegen, weil im nächsten Monat – dies als kleiner Teaser – die Masturbation untersagt ist.
25. Jänner
■ Topfenstrudl, Punschkrapfen, Kaffeetschal, Barbara Karlich – Die blaue Stunde kann so schön sein.
Ich sehe mir von Zeit zu Zeit diese sympathische Talkshow mit großem Vergnügen an. Bei der Barbara Karlich – Show ist man nicht bemüht, Hysterie und Entrückung bei den geladenen Gästen zu provozieren, sondern lässt diese meist recht alten und seltsamen Menschen in Ruhe Unsinn deklamieren.
Es ist falsch, die Lektüre der Kronen Zeitung damit zu rechtfertigen, dass man schließlich wissen wolle, „was das Volk bewegt". Wer wissen möchte, was das Volk beschäftigt, soll Barbara Karlich schauen.
Das heutige Thema war „Nörgler und Suderanten – Wir Österreicher meckern zu viel“. Zu diesem Zweck setze man ein halbes Dutzend Nörgler und Suderanten auf die Bühne, die sich über Mikrowellenstrahlung, Emanzipation, Nanotechnologie, zu kleine Speisekammern, Politiker oder Hundekot echauffierten. Doch warum bemühe ich den Plural? Dies ist nur ein kleiner Auszug aus der Themenpalette, über die sich eine einzelne Frau aufzuregen vermochte, die Katholizismus, Kommunikationsseminare, Paranoia und privates Unglück zu einem todunglücklichen Menschen gemacht zu haben schienen. Dann kamen noch einige andere Querulanten und Leserbriefschreiber, bis am Ende ein Grazer Strahlemann Lach-Flashmobs als Lösung aller Probleme propagierte.
Schöner Dialog:
Gast: „Ich muss immer den Müll wegräumen im Park, sonst kommen die Ratten.“
Karlich: „Die Ratten? In Wien?“
Gast: „Ja, die kommen ja nur um elf.“
Karlich: „Die Ratten?“
Gast: „Nein, die Straßenkehrer.“
■ Mein Vorhaben, so viele verschiedene Fruchtsäfte und Limonaden wie möglich auszuprobieren, ist gestorben. Ich kann keine süßen Getränke mehr sehen. Kaffee und Wasser. In der letzten Woche meiner Abstinenz herrscht beinharte Trink-Askese.
26. Jänner
■ Plane eine T-Shirt – Kollektion mit selbst erdachten Aphorismen.
Bisher habe ich erst einen Spruch. Der gefiel mir aber im Moment der Erfindung derartig gut, dass ich gleich an eine weltweite Textil-Vermarktung dachte:
LOVE IS MY NUTRITION
■ Ich möchte nicht, dass meine Wegbegleiter an meinem Begräbnis beklommen in der Geographie stehen, sich mit feuchten Augen meiner Lebzeiten erinnern und still trauern. Vielmehr wünsche ich mir, dass meine Lieben noch einmal zusammenkommen, dass feierliche Musik erschallt und alle noch einmal an die schönen Momente denken, die wir gemeinsam erlebt haben.
Und dann sollen sie gefälligst ordentlich losheulen! Hysterisches Greinen, klagendes Wimmern, irres Brüllen. Schließlich bin ich tot! Ich bin doch nicht irgendwer! Leichenschmaus: Abgesagt. Es gibt nichts zu feiern. Von mir aus: Selbstverstümmelung, Hungerstreik, Freitod. Mindestens ein Schweigemonat. Wer nicht bittere Tränen weint, fliegt raus. Meine Verdienste werden en detail vorgetragen, um das Gefühl des Verlusts ins Unermessliche zu steigern.
Wer für das eigene Begräbnis eine ungezwungene Sonntags-Matinee mit Fröhlichkeitsgebot und Mamorkuchen ersehnt, hat wohl zu wenig Selbstbewusstsein!
■ Sollte jemand für die Pantomime-Runde bei Activity mal eine richtige Herausforderung wünschen, hätte ich einen Begriff im Angebot, an dem man sich wirklich die Zähne ausbeißen kann, wenn man ihn darstellen will:
Pantomime
27. Jänner
■ Ein schönes Beispiel für fragwürdige Wikipedia-Referenzartikel:
Vor vielen Monden, als mitunter noch Unerfahrenheit und jugendlicher Übermut meine Feder lenkten, verfasste ich im Rahmen des sogenannten Juli-Wunschkonzerts einen Monat lang täglich Artikel, deren Themen von den Lesern bestimmt wurden. Zum Stichwort „Donaudampfschifffahrtsgesellschaftskapitän“ schrieb ich über das tatsächlich längste Wort der deutschen Sprache, das damals wie heute laut Wikipedia „Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz“ lautete. Das wusste ich nicht etwa durch redliches Studieren in düsteren Bibliotheks-Sälen oder kraft meiner etymologischen Fachkenntnisse, sondern eben von der populären Online-Enzyklopädie.
Zufällig stieß ich kürzlich wieder auf den bewussten Artikel und staunte nicht schlecht, was dort als sogenannter Einzelnachweis angeführt ist:
Mein bescheidener FM4-Aufsatz vom 13.07.2006!

lena reiser
■ Das Jörgerbad: Schön und auf das Wesentliche reduziert. Ich bin, und diese Behauptung kam mir wirklich noch nicht oft über die Lippen, der schönste Mann im Raum. Ausnahmslos alle Badegäste sind entweder steinalt, besorgniserregend deformiert, ausgesprochen fettleibig oder Kinder, was den angenehmen Effekt hat, dass die Konzentration auf die Ertüchtigung nicht durch formvollendete Nixen oder resche Boys getrübt wird.
Beim Einlass zeigt sich ein Herr maßlos erregt, weil ihm fast immer einer der vorderen Spinde und nur in den seltensten Fällen einer der hinteren zugeteilt wird. Ein besonderes Prunkstück in meiner Sammlung von Problemen anderer, die ich glücklicherweise nicht habe.
Nach dreißig Längen Brustschwimmen – wie kurz eine Länge im Jörgerbad ist, sei an dieser Stelle verschwiegen – fühle ich mich fit wie ein Turnschuh, also überhaupt nicht, denn Schuhwerk glänzt selten durch Fitness. Beschließe daher, von nun an wöchentlich schwimmen zu gehen. Schließlich gibt es sonst kaum Sportarten, bei denen man halbwegs die Würde bewahrt, nicht in kostspielige Ausrüstungen investieren muss und keine Unschuldigen damit behelligt.
■ Stehsatz bei Interviews mit Schlagersängern: „Also wenn ich bei meinen Konzerten ins Publikum sehe, kommen da wirklich auch ganz viele junge Menschen.“
Würde ein Schlagersänger mal sagen, dass zu seinen Darbietungen ausschließlich alte Menschen kommen, würde ich mir denken: Bravo, Schlagersänger!
28. Jänner
■ Wenn man Sauerkraut kocht und drei Tage stehen lässt, riecht es exakt wie ein BigMac.
■ Die wenigsten Menschen würden „eine Kalorie“ sagen, sondern „ein Kalorien“. Weil eine einzelne Kalorie für unsere Ernährung eine so rudimentäre Menge darstellt, benutzt man fast immer den Plural.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was genau eine Kalorie ist. Das wäre definitiv kein Randwissen. Erst kürzlich habe ich erstmals, dafür aber eingehend studiert, was eigentlich Vitamine chemisch und biologisch genau darstellen. Ich habe eigentlich ausschließlich Randwissen, die meisten Dinge, die mich täglich umgeben, kann ich bestenfalls benennen.
■ Ich war noch nie mit jemandem befreundet, der langsam isst.
■ Manche Frauen tragen einen (nicht körpereigenen) Duft, der mich seit jeher abgestoßen hat. Durch einen Duschgel-Fehlkauf endlich die Aufklärung: Olive!
29. Jänner
■ Schöne Beispielsätze aus dem Duden der deutschen Idiomatik:
“Du willst wohl den Frack vollkriegen, du Armleuchter!"
“Du glaubst wohl, du kannst mich verschaukeln? Typischer Fall von denkste, mein Lieber!“
Ebenfalls immer ein Burner in meinem Lieblings-Wörterbuch: Die Quellenangaben bei Zitaten!
“Lieber einen Floh im Ohr als eine Wanze im Telefon. (www.xtreme-fun.de)“
■ Es ist nicht schwierig, überdurchschnittlich gut auszusehen. Man blicke sich kurz auf der Straße um.
■ Der Zitterrochen spricht zum Aal:
Lieber Aal, ich hätte mal
eine Frage, die mich schon
beschäftigt seit geraumer Zeit:
Sind Wörterbücher eigentlich
nach Wichtigkeit gereiht?
Da verarscht der fiese Aal
den armen Rochen gleich total,
behauptet, weise Menschenköpfe
reihten dereinst die Geschöpfe,
beginnend bei den edlen, hehren
oder schönen Tieren, deren
Ranking er recht souverän
anführt, denn ganz vorne stehen
eben jene Lebewesen
die besonders sind, zu lesen.
Da beginnt der Zitterrochen
merkbar innerlich zu kochen,
entgegnet ihm bestimmt und laut,
er hätte seinen Scherz durchschaut.
Der Aal gibt zu, es war nur Spaß,
denn auf Platz zwei folgt gleich das Aas.
Warum nur sollte das dabei sein,
wie können Leichen auf Platz zwei sein?
Und was hättest du verbrochen,
dass dein Name, lieber Rochen,
auf den letzten Seiten steht?
Nein, die Reihenfolge geht
doch nur nach dem Alphabet.
■ Habe ich an dieser Stelle eigentlich schon jemals meine einzige erzählenswerte Anekdote erzählt, bei der ein Prominenter eine Rolle spielt? Wahrscheinlich schon. Da ich sie kürzlich in einem elektronischen Briefwechsel wieder einmal aufrollte, kam mir die Idee, auch die treue Leserschaft noch einmal damit zu begeistern:
Peter Handke hat mir einmal am Friedhof der Namenlosen Rucola und Wurst geschenkt!
Ich gebe zu, dass man dieses einprägsame Erlebnis noch etwas sprudelnder beschreiben kann. Deshalb hier die Extended Version:
An einem Frühlingsnachmittag, dessen Luft von einer bis über beide Ohren grinsenden Sonne derart wohltuend erwärmt war, dass selbst im Schatten jener Eichen, deren mächtigen Kronen das letzte Obdach der am Alberner Hafen bestatteten Ertrunkenen zu sein scheinen, die Übergangsjacken ohne Furcht vor etwaiger Erkältungsgefahr abgelegt werden konnten, überreichte mir der berühmte und viel gepriesene Dichter Peter Handke dereinst ein Mordstrum Wurst, für dessen Ausmaße selbst nach langjähriger Recherche in etymologischer Fachliteratur kein zutreffendes Adjektiv aufzutreiben war, und würzte die edelmütige Gabe obendrein mit einem ebenfalls nicht bescheiden geratenen Bündel an Blatt für Blatt, im Zuge eines beispiellosen Frondienstes selbstgerupften und daher nicht nur geschmacklich einmaligen, sondern auch ideell nicht von der Tischkante zu stoßenden Rucolas.
Vielleicht küsst mich die Muse morgen französisch und ich verfasse noch einen Dance-Remix dieser fetzigen Angelegenheit.