Erstellt am: 23. 1. 2011 - 15:00 Uhr
Tagebuch zum Jahr des Verzichts (3)

marc carnal
2011 wird Tagebuch geführt und verzichtet: Monatlich auf ein bestimmtes Sucht- und Genussmittel, auf Medien oder alltägliche Bequemlichkeiten. Jeder Verzicht ist klar eingegrenzt. Es gelten freiwillige Selbstkontrolle und dezenter Gruppendruck unter den Mitstreitern.
16. Jänner 2011
■ Herr Zsutty ruft seit Tagen dazu auf, einen Witz mit der Pointe „Ja, wenn das Schwein gesund ist“ zu erdenken. Also möge das meine erklärte Aufgabe für diese Woche werden.
■ Dokumentation über den zweiten Weltkrieg. Didi Hallervorden wird als Zeitzeuge interviewt. Nach vierzig Minuten staubtrockener Oral History von reflektierten und besonnenen Leidtragenden warte ich trotzdem auf „Palimpalim“. Manche Gesichter sind nicht multifunktional.
■ Mein Unterbewusstsein gewöhnt sich nach ungefähr einer Woche an eine Handy-Weckmelodie und lässt mich diese dann frühmorgens ignorieren. Um zeitgerechtes Erwachen zu gewährleisten, muss ich also regelmäßig die Musik wechseln.
Meiner Tätigkeit als jahrelanger persönlicher Weck-DJ überdrüssig, kam mir eines Tages die Idee, meinen regulären Klingelton zu verwenden, um mich mit einem fingierten Anruf aus dem Schlaf zu reißen. Das funktionierte monatelang, mittlerweile ist mein Hirn aber selbst im Stand By-Modus schon sensibel genug, um zu erkennen, dass ein morgendliches Ring-Ring etwas geringere Intervallabstände hat als jenes, das Anrufe ankündigt.
Im Kampf gegen meinen von Selbstbetrug und Übellaunigkeit getrübten Tagesstart betrat ich schließlich einen Gemischtwarenladen.
“Palimpalim! Ich hätte gerne eine Flasche Pommes Frittes und den lautesten Wecker, den sie führen.“
Man beriet mich wie geheißen. Nun besitze ich einen ohrenbetäubenden Wecker.
Wer sich bei dieser schalen Erzählung eine Pointe erwartet, wird nun enttäuscht!
Na gut, ich will den anspruchslosen Teil der durchgehend verstimmten Leserschaft mit einer Ersatz-Pointe abspeisen:
„Ja, wenn das Schwein gesund ist.“
Damit wird Herr Zsutty wohl nicht zufrieden sein...
■ Beim ersten Lottoversuch leer ausgegangen. Ich bin maßlos enttäuscht.
17. Jänner
■ Ein Satz mit Laserkorrektur:
Der Poet blieb stur:
Nie Laserkorrektur.
■ Auch Jahre nach seinem Ableben folgt auf jeden nicht verherrlichenden, gar posthum kritischen Verweis auf den populären Politiker Jörg Haider mitunter immer noch die empörte Replik, man solle „über einen Toten nicht schlecht reden.“
Frage, ihr lieben Freunde des Altlandeshauptmannes: Verjährt eigentlich ein Todesfall irgendwann auch? Kann man euch auch mit der Bemerkung erregen, Kaiser Nero wäre dem Größenwahn verfallen? Der sieht die raphani sativi subsp. sativius (lat. Radieschen) schließlich auch schon seit Jahrtausenden von unten an.
■ Unannehmlichkeiten – What exactly are they good for?
■ Aktueller Lieblingsparagraph aus dem Strafgesetzbuch:
§115 (2): Eine Handlung wird vor mehreren Leuten begangen, wenn sie in Gegenwart von mehr als zwei vom Täter und vom Angegriffenen verschiedenen Personen begangen wird und diese sie wahrnehmen können.
18. Jänner
■ "Meine Erwartugen ans Leben sind bescheiden - Ich will nicht allzu fett werden und hin und wieder beim Solitär gewinnen."
(Stefanie Sargnagel)
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marc carnal
■ Möchte auf Empfehlung von geschmackssicheren Bekannten mit der Serie „Mad Men“ beginnen und bin sehr verwundert über die etwas rätselhafte und kaum einführende, andererseits auch recht unspektakuläre Pilotfolge. Danach bemerke ich, dass ich versehentlich einfach mit irgendeiner Folge der zweiten Staffel begonnen habe. Zurück zum Start!
■ Mein ganzes Leben hatte ich verdächtig großes Glück,
der Grund ist, dass mich Gott abgöttisch liebt.
Ich bin jedoch nicht dankbar, gebe ihm nie was zurück,
und glaube nicht einmal, dass es ihn gibt.
Das macht den Alten traurig. Tag für Tag hockt er betreten
im Himmel und feilt dort an neuen Gaben,
die mich zwar stets erfreuen, doch ihn deshalb anzubeten,
hieße nur, ihn akzeptiert zu haben.
Den Teufel werd ich tun, er soll sich ruhig noch mehr bemühen,
dass er mir mein Gastspiel hier versüßt.
Und sollte er nur einmal nicht vor Tateneifer glühen,
wird er staunen, wie er es mir büßt.
19. Jänner
■ Seltenes Phänomen im Morgengrauen: Prophylaktische Prokrastination in Kombination mit Erstmaligkeit.
Soll heißen: Eine Ersatzhandlung beginnen, noch bevor man des eigentlich zu Erledigenden gewahr wird und dabei eine Premiere erleben.
Noch etwas konkreter: Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben Fenster geputzt. Und das noch im Halbschlaf, wie als vorsorgliche Flucht vor den vielen eigentlichen Pflichten, die anstünden. Fensterputzen! Der Greatest Hit der sinnlosen Haushaltstätigkeiten. Gut, ab und zu Vogelkadaver abzuschaben ist gerade noch vertretbar, ansonsten muss durch Fenster nur etwas gebrochenes Sonnenlicht dringen oder die Großwetterlage zu erahnen sein.
Ich aber: Putz putz, wisch wisch, polier, polier.
Sitze eine halbe Ewigkeit im Glanz der reinen Scheiben auf dem Kanapee und wundere mich über mich selbst.
Fensterputzen – Das mache ich nie mehr wieder! Man fühlt sich überhaupt nicht besser danach, höchstens ein bisschen schuldig und zerknirscht.
Ist das die Abstinenz? Baue ich ungeahnte Energiereserven in mir auf und habe verlernt, die richtigen Ventile dafür zu öffnen? Was kommt als nächstes? Heizkörper wienern? Bücher alphabetisch sortieren? Schuhe putzen???
■ Aus der Reihe
Sätze, die man mit hoher Wahrscheinlichkeit nie aus meinem Mund hören wird:
“Ich warte nur noch auf grünes Licht vom Studio.“
■ Alltags-Thrill: Die plötzliche Vergegenwärtigung der Möglichkeit, in jedem Moment etwas sehr Dummes, Gefährliches oder Sinnloses tun zu können und die Erleichterung über das fragile Zünglein an jener Waage, die wir Vernunft heißen. Wer stand noch nie am Bahnsteig und dachte: „Es wäre nur ein Schritt. Nur ein Schritt!“
■ Ein Satz mit Din A4:
Sir Brandon erklärte Lord Stuart breit und lang,
er brauche mehr Din A4 seinen Empfang.

max horejs
Gerade an zähen Sonntagen sehr empfehlenswert: Alle bisherigen Folgen des Ron Tyler Archivs als Playlist! Noch schöner im Random-Modus!
Folge 0001 bis 0100
Folge 0101 bis 0150
Folge 0151 bis 0200
Folge 0201 bis 0250

marc carnal
Noch besser: Das Ron Tyler Archiv auf Facebook täglich frei Haus liefern lassen!
20. Jänner
■ Die kleinste Marktlücke der Welt: Fax-Pornos.
Eigentlich das einzige Medium, bei dem Erotik keine Rolle spielt.
Na gut: Telegraphie.
Wobei, wer weiß…
Nimm mich – stop – Bin feucht – stop – Besorg’s mir – stop
■ Plötzlich wird mir anhand der Tatsache, dass es hunderte Millionen attraktiver Frauen gibt, von denen ich im Rest meines Lebens ungefähr 0,000001% kennenlernen und mit noch viel weniger schlafen werde, die Kürze des irdischen Gastspiels gewahr.
■ Muss dem Leitmotiv dieses Tagebuchs wieder etwas treuer werden:
Ich bin anscheinend der einzige im Verzichts-Kollektiv, der durch die Abstinenz nicht schlanker wird. Vielmehr muss ich die Tastatur unter meinem herangezüchteten Bäuchlein hervorziehen, um diese Zeilen tippen zu können. Das mag daran liegen, dass ich teilweise aus reiner Langeweile exzessiv speise.
Mein letzter Monat ohne Alkoholkonsum liegt wohl rund zehn Jahre zurück. Wer das schockierend findet, möge selbst rekapitulieren.
Nach zwei Dritteln der bisher tadellosen Erfüllung des ersten Gelübdes muss ich feststellen, mich schon seit Ewigkeiten nicht mehr so gesund und zufrieden gefühlt zu haben. Die Sinuskurve meines Gemüts schlägt weniger hohe Wellen. Morgendliche Zerschlagenheit ist mir mittlerweile fremd, ich bin konzentrierter, fleißiger und ausgeglichener.
Andererseits vermisse ich durchaus die Nächte voller Unsinn, Extase und Leidenschaft. All das ergibt sich freilich auch nüchtern, aber weniger intensiv und eben seltener.
Bemerkenswert finde ich, dass ich absolut keine Lust auf Bier oder Wein habe, sondern mich seit Tagen nach Gin Tonic und Sekt sehne, zwei Getränke, die ich mir sonst kaum gönne.
Die Verzichtsgenossen geben zu Protokoll, im Jänner viel seltener auszugehen. Bei mir ist eigentlich das Gegenteil der Fall, das Kaffeehaus wurde zum Zweitwohnsitz. Meine Performances dort sind schließlich souveräner, angenehmer und auch kostengünstiger.
21. Jänner
(Weltknuddeltag - Nüchtern freilich nur halb so lustig)
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marc carnal
■ Zu Ehren von Leopold Anatol Nepomuk Böswarth, Magistratsbeamter und Erfinder der Linkshänderblockflöte, der heute seinen 250. Geburtstag gefeiert hätte, wird aufgekocht.
Unerklärlich, wie manche Spaßbremsen „vernünftige Portionen“ zubereiten können. Grundregel, mitschreiben: Von allem immer viel zu viel kaufen, vorbereiten und kochen! Selbst, wenn nur ein Gast da ist. Sogar, wenn gar kein Gast da ist.
Think big!
Was du heute kannst besorgen…
Mehr ist oft mehr.
Einfrieren, horten, hamstern.
Der Magen rechnet in Kilogramm.
■ Muss gestehen, mich bisher mit einer ertraglosen Suche nach einem brauchbaren Witz zur Pointe „Na, wenn das Schwein gesund ist“ gequält zu haben. Aber ich gebe nicht auf, Herr Zsutty!
22. Jänner
■ Man kann der Idee, ein Kind Tankwart zu taufen, nicht jeglichen Reiz absprechen.
■ Für gewöhnlich nehme ich Buch- oder Autoren-Empfehlungen kaum an. Erstens preisen die meisten Quark an und zweitens wird meine literarische To Do-Liste langsam selbst schon zum Buch. Als Kollegin Reiser allerdings vor einiger Zeit leidenschaftlich Heinrich Steinfest anpries, veranlasste mich die „Hüft’s nix, schod’s nix“-Maxime zu einem Spontankauf. Ich bin sehr froh darüber. Mittlerweile habe ich einen Gutteil von Steinfests Oeuvre gelesen.
Eigentlich bin ich Anhänger der These, dass Autoren genauso schreiben, wie sie aussehen. Heinrich Steinfests immergleiches Autorenbild lässt auf den allerletzten Menschen schließen, neben dem man auch nur im Bus sitzen möchte.
Er schreibt allerdings fabelhaft. Seine geschickt als Krimi getarnten Romane bergen einen erfrischenden Fundus an (im besten Wortsinn) eigenartigen Gedanken und klugen Formulierungen. Steinfest versucht nicht, sich zu sehr hinter einer autarken Erzählerfigur zu verbergen, sondern rügt, poltert und lobt stets wohldurchdacht.
Manche Länge sei ihm verziehen, der vereinzelte Spannungsverluste geschuldet sind. Nicht jeder Absatz ist tadellos rhythmisch und nicht jeder Handlungsbogen unbedingt rund. Aber alleine die Katharsis eines Pornodarstellers, der überstürzt ein Fachgeschäft für Wolle eröffnet und so einen Roman einleitet, dessen innere Logik und Stringenz auch nicht von Außerirdischen erschüttert werden kann und der den seltsamsten Schluss birgt, der mir seit langem untergekommen ist, ist Anlass genug, Heinrich Steinfest zu rühmen.
■ In unseren Breiten bezeichnen Besteck-Symbole auf Autobahnraststätten-Ankündigungs-Schildern, dass dort ein Imbisses eingenommen werden kann. Es wäre nicht nur aus Spaß an der Freud, sondern in echt interessant, wie man dergleichen in China darstellt.
■ Schönes Kompliment: „Du bist so erfrischend orthodox.“