Standort: fm4.ORF.at / Meldung: "Kesseltreiben am Trafalgar Square"

Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

1. 12. 2010 - 00:31

Kesseltreiben am Trafalgar Square

Besetzte Unis, laufende Demonstrationszüge, 153 Verhaftete - Der zweite "National Day of Action" der britischen StudentInnen.

Die alte Frage, die besonders ZuhausebleiberInnen gern stellen, nämlich ob Demonstrationen je was bringen, darf mit einem eindeutigen „Ja“ beantwortet werden - und zwar anhand der britischen StudentInnenproteste, die Dienstag ihren zweiten „National Day of Action“ erlebt haben.

Während ich das hier schreibe (Dienstagnacht), sitzen 153 DemonstrantInnen im Gewahrsam der Metropolitan Police. Es ist der letzte Akt eines Spielchens, das den ganzen Tag gedauert hat.

Nach den Krawallen vor drei Wochen, bei denen die Polizei von der Größe des Protests überrascht und heillos überfordert war, folgte letzte Woche die große Einkesselungs-Show, bei der die Demonstrierenden auf engstmöglichem Raum zusammengedrängt und mehrere Stunden am Verlassen der Demo gehindert wurden.

Erneut ein Gruß dem ORF-Gesetz: Dieser Beitrag begleitet die FM4-News wie der Mond die Erde. Daher darf man ihn auch kommentieren, wenn man will.

Diesmal war der Demonstrationszug im Laufschritt unterwegs, um der Polizei keine Zeit zum Absperren von Straßen zu geben - eine Taktik, die bis Einbruch der Dunkelheit aufging.

Dann, am Ende der Mäusejagd, wurden offenbar alle, die sich noch am Trafalgar Square befanden, aufgegriffen und wegen „breach of the peace“ abgeführt.

London war indessen nicht der einzige Schauplatz der Proteste. Wie schon in der Woche zuvor hatte sich der Widerstand gegen eine drohende Verdreifachung der Studiengebühren auf 9000 Pfund pro Jahr (bei Entzug staatlicher Förderung für die Universitäten) von Newcastle über Cardiff bis Brighton auf ganz England und Wales ausgedehnt (in Schottland gibt es keine Studiengebühren).

In der Zwischenzeit hat sich auch die Zahl der Uni-Besetzungen (von älteren JournalistInnen zur besseren Verständlichkeit für ihre Generation gern „sit-ins“ genannt) sprunghaft vermehrt, allen voran die Besetzung des Jeremy Bentham Room im Londoner University College.

Bei einem Meeting an jenem Ort brachten die BesetzerInnen den bis dahin enttäuschend brustschwach agierenden Präsidenten der National Union of Students Aaron Porter dazu, sich nach einer Entschuldigung für sein „rückgratloses Zaudern“ vollinhaltlich hinter sie zu stellen. Hätte er das nicht getan, die selbstorganisierte Bewegung hätte ihren vorgeblichen, nicht von allen geschätzten Chef einfach links bzw. in der unentschiedenen Mitte liegen gelassen.

Und wo ich schon bei den politischen Richtungszuweisungen bin: Selbst wenn die alten Trotzkisten vom „Socialist Worker“ wie üblich die meisten Plakate liefern, unterhält der britische StudentInnenprotest weder wesentlich Verbindungen mit politischen Organisationen, noch beschränkt er sich auf die eigenen Interessen.

Siehe den vorgestrigen Flashmob vor der Topshop-Filiale in der Oxford Street als Protest gegen die Steuervermeidung des Konzernchefs und Milliardärs Sir Philip Green, der wie so viele seinesgleichen einen britischen Adelstitel mit einer ausländischen Steueridentität vereint.

Flashmob vor TopShop

flickr

Flashmob vor Top Shop, Oxford Street, am Montag. Motto: "You marketise or education - we educate your market"

Die Rechnung, dass das Geld, das für Bildung und Sozialstaat fehlt, auch genau jenes Geld sei, das Leute wie Green nicht an Steuer zahlen, trifft nicht ganz den Kern. Schließlich bringen die von der Regierung geplanten Reformen, die das Rückzahlen der radikal erhöhten Studiengebühren erst mit Eintritt ins Berufsleben (bei Jahresverdienst jenseits 21.000 Pfund) fällig machen, zunächst einmal keine Ersparnis.

Die Privatisierung der höheren Bildung durch Konkurrenzprinzip und Rückzug der staatlichen Förderung ist vielmehr ein rein ideologisches Projekt, das sich bloß als als Sparmaßnahme verkleidet.

Andererseits sorgen genau solche über den eigenen Tellerrand hinausdenkenden Aktionen der Studierenden für jene unerwartet große öffentliche Sympathie, die der Regierungskoalition jetzt schon gehörig zusetzt.

Die noch vor Weihnachten geplante parlamentarische Absegnung der erhöhten Studiengebührenobergrenze könnte am Ende gar noch platzen. Unter den LiberaldemokratInnen, die ihre JungwählerInnen nun in Scharen fliehen sehen, formiert sich zwar noch keine Spaltung, aber immerhin eine kleine Revolte.

Sogar Wirtschaftsminister Vince Cable, selbst einer der Architekten des Koalitionsprogramms, hat erklärt, er würde sich möglicherweise seiner Stimme enthalten (nicht ganz zu Unrecht hat ihn die Labour-Opposition daraufhin der Heuchelei bezichtigt).

Die walisische Regionalregierung wiederum hat beschlossen, dass sie die durch die Erhöhung der Studiengebühren entstehenden Zusatzkosten für StudentInnen aus Wales ersetzen wird. Was auf den Titelseiten der englischen Tagespresse prompt großes Wehklagen über das an Englands Kindern begangene Unrecht auslöst. Auch keine guten Nachrichten für die Regierung.

Ohne die Proteste der StudentInnen auf der Straße und an den Unis wären all diese Dinge nicht passiert. Eine Lektion, die sich herumgesprochen haben wird, wenn weitere Sozialkürzungen zu greifen beginnen.