Erstellt am: 23. 11. 2010 - 10:54 Uhr
Ansteckende Angst

Rowohlt
In der italienischen Stadt Bergamo werden eines Tages Vorwürfe des Kindesmissbrauchs laut. Erst wird ein Priester verdächtigt, dann zwei Kindergärtnerinnen. Eine Mutter und eine Psychologin beginnen einen Aufklärungsfeldzug gegen Kindesmissbrauch. Verstörende Videos von bergamaskischen Kindern, die im Schlaf zu schreien beginnen oder sexuelle Gesten mit ihren Puppen nachahmen werden beim Elternabend vorgeführt. Nach und nach meinen immer mehr besorgte Eltern, Anzeichen des Missbrauchs auch an ihren Kindern zu entdecken. Es beginnt eine Suche nach den Schuldigen, nach Sündenböcken. Sofort springen die Medien auf den Zug auf und rufen zur Hexenjagd auf. Die Zahl der Verdächtigen wächst mit zunehmender Hysterie, bis selbst Ehepartner sich gegenseitig misstrauen. Wie ein Virus stecken die Kinder sich gegenseitig mit den Anzeichen von Missbrauch an und übertragen damit die Angst auf alle Erwachsenen. Die ganze Stadt schaukelt sich hoch in fiebrige Höhen, bis die Rückkehr in einen geregelten Alltag nicht mehr möglich scheint.
Der Erzähler hat als Kind jede Nacht vom Weltuntergang geträumt und ist geschlafwandelt. Immer wieder springt die Erzählung zeitlich zurück und schildert auf distanzierte, fast analytische Weise seine nächtlichen Zustände.
"Der Junge macht sich auf den Weg, barfuß, im Schlafanzug, mit geöffneten leeren Augen, in der immensen Nacht an einem steil ins Meer abfallenden Hang. Der Park der Villa verschlingt ihn, die Baumkronen der Kiefern verstecken den Mond vor ihm, seine Glieder ziehen sich zusammen, krampfartig, wie vom Schauder eines epilepitschen Anfalls erfasst. Aber es ist die Villa der Spiele seiner Kindheit, und der Junge kennt den Weg genau."
Als Erwachsener unterrichtet er Philologie an der Universität Bergamo und schreibt nebenbei für eine Zeitung. Sein Interesse für die Fälle von Kindesmissbrauch ist anfänglich rein journalistisch. Die längste Zeit betrachtet er die Vorgänge mit kritischer Distanz. Er sieht die Panikmache als das, was sie ist. Allerdings wird er immer tiefer in den massenhysterischen Strudel hineingezogen, dessen sich niemand in Bergamo entziehen kann. Schließlich bricht auch bei ihm die Angst aus wie ein Virus. Er beginnt zu zweifeln und zu verdächtigen. Er sucht nach Ursachen für seine traumwandlerische Kindheit und erkennt sich selbst in den verstörenden Videos der schreienden Kinder wieder. Letztendlich zweifelt er sogar an seiner eigenen Unschuld.
"Als Kind litt ich unter gravierenden neurologischen Kompensationsstörungen wie Albträumen und nächtlichen Angstattacken; als Kind wandelte ich im Schlaf, ich schrie im Schlaf, ich spielte im Schlaf, ich legte Feuer, klagte und schrie Menschen, Tiere und Pflanzen an. Woher die Gewissheit nehmen, dass ich all das nicht auch als Erwachsener tat?"

Luigi Constantini
Der Autor
Antonio Scurati ist in Italien als Autor sehr erfolgreich. „Das Kind das vom Ende der Welt träumte“ ist das erste seiner Bücher, das auf Deutsch übersetzt worden ist. Scurati unterrichtet, wie die Hauptfigur seines Romans, Philologie an der Universität und auch er schreibt für eine Zeitung. Vielleicht sind diese biographischen Parallelen auch die Ursache dafür, dass der Roman sehr glaubwürdig daher kommt. Der Autor kennt die sozialen Gefilde, über die er schreibt. Auch, dass Scurati sich in seiner Forschung einerseits der Sprache von Gewalt und andererseits der Sprache von Medien widmet, liest man aus seinem Buch heraus. Sein Blick ist ein medienanalytischer. Er durchschaut die Mechanismen der medialen Stimmungsmache und vermittelt diese Erkenntnis dem Leser. Umso irritierender ist es deshalb, wenn sein fiktives Alter Ego schließlich der Hysterie erliegt. Wenn selbst er der Sache Glauben schenkt, fällt dem Leser die kritische Betrachtung umso schwerer.
Angst
„Wurden die Kinder wirklich missbraucht oder nicht? Sind die Verdächtigen schuldig?“ Diese Zweifel schleppt man das ganze Buch lang mit, wie eine Erkältung, die nicht so recht ausbrechen will, aber auch nicht weggeht. Man hat sich angesteckt - mit der Angst. Und dieser Prozess stellt den eigentlichen Kern von Scuratis Roman dar.
Für die Gesellschaft, die Scurati beschreibt, ist die Angst die letzte Leidenschaft zur der sie noch fähig ist. Die Angst in enger Symbiose mit Sensationsgier macht Einschaltquoten. So kommen im Roman mehrmals Talkshows vor, ähnlich denen, die auf Canale 5, ein Fernsehsender, der Silvio Berlusconi gehört, laufen. Die Angst kann aber auch Wählerstimmen mobilisieren, was Scurati am Beispiel der rechtspolitischen Partei Lega Nord festmacht.
Das Thema Kindesmissbrauch ist nicht italienspezifisch, ebensowenig die mediale Aufarbeitung. Auch wenn Scurati keine Lösung für den richtigen Umgang mit dieser oder ähnlich heiklen Themen bietet, so schafft er es doch für den Drahtseilakt zwischen Gleichgültigkeit und sensationsgeiler Hysterie zu sensibilisieren.