Erstellt am: 23. 11. 2010 - 12:25 Uhr
Pop durch Kontrollverlust
"Ich liebe Popmusik. Und ich liebe Songs.""
Eine eindeutige Ansage von Jonathan Morali, dem Sänger, Songschreiber und Mastermind der französischen Band Syd Matters. Das wäre an sich noch nichts besonderes, würde Jonathan nicht noch einen wichtigen Nachsatz folgen lassen.
"Aber innerhalb des Songs liebe ich es, mit Klängen zu experimentieren. Man kann zwar ein einfaches Lied schreiben, zugleich sollte man auch immer nach etwas Neuem suchen, egal ob es im Sound oder in der Struktur ist."
Nach diesem Prinzip hat der in Paris aufgewachsene Musiker bisher drei Alben unter einem Pseudonym verfasst, das sich angeblich aus den Namen der beiden Pink Floyd Gründungsmitglieder Syd Barret und Roger Waters zusammensetzt. Mit psychedelischem Stadionrock haben Syd Matters jedoch nichts gemeinsam. Vielmehr geht es darum, Leichtigkeit mit tiefgründiger Melancholie zu verbinden, simple Popnummern mit spannenden Details zu versehen, der Einfachheit des Songs eine gewisse Komplexität der Harmonieführung und Klangexperimente gegenüberzustellen, wobei auch die inhaltliche Ebene nicht zu Kurz kommt. Das neuestes Werk "Brotherocean" beweist, wie weit das französische Quintett in dieser Entwicklung schon vorangeschritten ist.

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Die Familie und das Meer
Mit einem kratzenden Geräusch beginnt das Eröffnungsstück "Wolfmother", unterfüttert mit Percussions und zartem Gitarrenpicking, bis Jonathan Moralis warme Stimme einsetzt, die vom Timbre her an Mr. E denken lässt. Noch dazu singt Jonathan von brennenden Häusern zu einer zuckersüßen Melodie, die von rhythmischem Backgroundgesang begleitet wird, den selbst ihre Landsleute AIR nicht sanfter einsingen könnten. Während die Eels den kontrapunktischen Text meist aus tragischen, persönlichen Erlebnissen speisen, war es im Fall von "Wolfmother" der Roman "Licht im August" des Nobelpreisträgers William Faulkner, das den Song maßgeblich geprägt hat.
Überhaupt spielt Literatur für Jonathan Morali eine große Rolle. Viele seiner Songs werden von der Atmosphäre literarischer Werke beeinflusst. Der recht eigenwillig zerklüftete Song "Halalcsillag" ist nach einem Geisterschiff benannt, von dem Gabriel Garcia Marquez in einer gleichnamigen Geschichte erzählt. So wie dieser Text aus einem einzigen langen Satz besteht, der sich über mehrere Seiten zieht, wurde "Halalcsillag" an einem Nachmittag geschrieben und wirkt mit seinen hypnotischen Percussions und den geisterhaften Chören einen ähnlichen Sog, wie die Erzählung.
Der Titel des Albums beherbergt gleich zwei Inspirationsquellen, die sich durch fast alle Songs schlängeln. Einerseits ist es die Magie des Meeres, die Jonathan durch den irischen Autor John Banville und seinen preisgekrönten Roman "Die See" vermittelt bekommen hat. Andererseits ist der Pariser Sänger und Songschreiber in einer Großfamilie aufgewachsen, deren Dynamik er nicht immer leicht nachvollziehen konnte, die ihn aber stets beschäftigt hat.
Jonathan: "Die Beziehungen in einer Familie sind sehr komplex und nur schwer zu verstehen. Man weiß manchmal nicht, warum man diese Leute liebt oder wie man mit ihnen kommunizieren soll. Aber man weiß insgeheim, dass man mit ihnen auf ewig verbunden ist. Ich weiß nicht, was Familie bedeutet, aber ich fühle, was es bedeuten kann. Und das möchte ich über meine Songs ausdrücken."

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Traumhafte Zufälligkeit
Vorsichtig schlägt Jonathan die Akkorde von "Rest" am Piano an. Seine Stimme klingt brüchig. So als würde sie jeden Moment abreißen und warmen Tränen Platz machen wollen. Erst als ein rollender, sanfter Schlagzeugrhythmus einsetzt, scheint sich Jonathan gefasst zu haben und summt schließlich die traurige Refrainmelodie, während sich ein trockener Drummaschine-Loop und 80-iger Synthieflächen unter das knöchige Gerüst des Folksongs mischen. Alles wirkt ein wenig entrückt, so als wäre dieser Song aus einer anderen Dimension, was gar nicht so weit hergeholt ist.
Jonathan: "Ich habe einfach meinen Traum aufgeschrieben, der Song war also quasi schon in meinem Kopf und ich musste nicht mehr dazu machen, als ihn aufzunehmen. Das wirklich Spannende dabei war, dass ich mich davor rund fünf Jahre lang nicht an meine Träume erinnern konnte. Und dann plötzlich bin ich aufgewacht und ich konnte mich an alles genau erinnern. Das war fast wie ein Schock für mich und deshalb musste ich einen Song daraus machen."
Es sind diese Zufälligkeiten, diese spontanen Ereignisse, die "Brotherocean" zu einem derartig spannenden, gefühlvollen und mystischem Album machen. "We Are Invisible" zum Beispiel erinnert an einen reduzierten Elliott Smith Song, wobei allerdings immer wieder kleine Nebengeräusche zu hören sind, die verstören. So, als würde man direkt neben Jonathan Morali stehen während er den Song einspielt und man sich nicht ganz sicher ist, ob im Hintergrund der Straßenlärm durch die Fenster dringt, der Boden kurz geknarrt hat oder aus versehen ein Kanal am Mischpult aufgedreht blieb, an dem ein Mikrophon angeschlossen ist, das in einem anderen Raum steht. Insofern hat der Zufall das neue Syd Matters Album mitgeschrieben.
Jonathan: "Es gibt viele kleine Geräusche und Sounds auf der Platte, die ich eigentlich gar nicht beabsichtigte, aufzunehmen. Ich liebe solche Zufälle. Bei dem Song 'River Sister' zum Beispiel kann man diese psychedelische Keboardgewabber hören. Das war eigentlich ein Missgeschick, denn das Delay war nicht wirklich in der korrekten Stimmung und ich wusste auch nicht genau, welche Akkorde darüber passen würden. Das Gerät machte etwas, was ich überhaupt nicht erwartet hatte und das war großartig. Denn eigentlich schaffst du es niemals, dass die Songs genau so klingen, wie du sie vorher in deinem Kopf hast. Also musst du einfach los und dich überraschen lassen."

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Auf der Suche nach Kontrollverlust
"Brotherocean" ist ein besonderes Album. Es ist sehr intim und zugleich sofort zugänglich. Es besticht durch klassische Songs und zugleich detaliverliebter Experimentierfreude. Es lässt das Herz höher schlagen und zugleich ein melancholisches Sehnsuchtsgefühl aufkommen. Wahrscheinlich kann man es deshalb unzählige Male hören, ohne Langweile zu empfinden. Denn immer wieder entdeckt man neue Nuancen, Klänge die man zuvor verpasst hat, weil man wie hypnotisiert an jedem Wort, das über Jonathans Lippen kommt, gehangen hat. Allein bei der großartigen Single "Hi Life" rücken immer wider andere Details in den Fokus, ohne das dabei die atmosphärische Wärme und berührenden Melodien verloren gehen. "Hi Life" ist durch seine zeitweilige Unschärfe und unperfekte Aufnahmemethode zugleich wohl einer der perfektesten Popsongs dieses Jahres.
Das alles mag für Jonathan Morali nur nebensächlich sein, denn eigentlich geht es ihm beim Schreiben seiner Musik um etwas viel Grundsätzlicheres.
Jonathan: "Ich glaube ich trachte danach, mich im Schreib- oder Aufnahmeprozess zu verlieren. Das sind nämlich genau die Momente, wo Dinge plötzlich passieren und entstehen, die man nicht kontrollieren kann. Und genau nach diesem Verlust der Kontrolle suche ich, das ist das Spannenste, wenn ich Musik mache."
Wenn ein Kontrollverlust ein derartig schönes Album wie "Brotherocean" zu Wege bringt bleibt zu hoffen, dass Jonathan noch viele Bücher liest, oft träumt und sich anschließend erneut in seiner musikalischen Welt fallen lassen kann.