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Andreas Gstettner-Brugger

Vertieft sich gern in elektronische Popmusik, Indiegeschrammel, gute Bücher und österreichische Musik.

22. 11. 2010 - 11:39

Der Groove der Landschildkröten

Das extravagante Quintett Tortoise und ihr Instrumental- und Genremix live im Wiener WUK.

Schildkröten können (je nach Gattung) bekanntlich über 100 Jahre alt werden. Bei der Chicagoer Post-Rock-Landschildkröte Tortoise könnte die zu erwartende Überlebensdauer trotz der äußerst ungemütlichen Witterung in ihrem Lebensraum, dem Musikbussines, sicherlich auch die Hundertjahrmarke übersteigen, zumindest was den dokumentierten Output betrifft. Denn schon Anfang der Neunziger hat diese Band begonnen, an ihrem ganz eigenen Sound zu basteln. Fernab von Konventionen kümmerten sich Tortoise in keinem Moment um die von der Indie-Polizei aufgestellten Barrikaden, sondern setzten sich immer wieder mit gekonntem Sprung über sie hinweg. Auch als das Quintett aus Chicago gestern im Wiener WUK gespielt hat, blieb es seinem eigenwilligen collagenartigen Instrumentalstücken treu.

Tortoise live Wien WUK

Andreas Gstettner

The midi breakdown

Ich bin einer der Leute, die schon 1996 mit "Millions Now Living Will Never Die" in das komplexe und doch melodiöse Universum von Tortoise eingestiegen ist. Umso größer war meine Freude, als ich die Band 1998 in einem kleineren Club in New York live erleben durfte. Nachdem zuvor der deutsche Elektroniker Markus Popp alias Oval das Publikum mit seiner Laptop Performance verstört hatte, zelebrierten Tortoise ihre damals brandneue Platte "TNT" mit stoischer Erhabenheit und scheinbar innerer Ruhe. Für mich damals faszinierend war das unaufgeregte Wechseln der Instrumente von allen Musikern während der langen, post-rockigen Stücke.

Ein ähnliches Bild bot sich gestern im Wiener WUK zwölf Jahre später. Gelassen schlendern die fünf Musiker auf die Bühne, schultern ihre Gitarren, nehmen an den zwei Schlagzeugen und hinter dem Keyboard Platz und spielen die Samples ein. Ein Knacksen. Stille. John Herdon, Schlagwerker und Keyboarder, verlautbart grinsend: "The Midi has broken down. Thank you!" Gelächter und Klatschen im Publikum mischt sich mit gewissem Erstaunen, sind die Musiker aus Chicago doch an sich nicht zu einem einzigen Wort zu bewegen, wenn sie auf der Bühne stehen. Da braucht es anscheinend erst ein technisches Gebrechen, dass diese unterkühlte Performance, die durchaus Konzept hat, durchbrochen wird.

Tortoise Live Wien Wuk

Andreas Gstettner

Allein John McEntires stoische Miene bleibt während des ganzen Konzerts gleich, bis auf wenige Momente, in denen er am Schlagzeug spielt - wenn es dort richtig zur Sache geht, beißt er die Zähne zusammen.

Fragiler Zahnradgroove

Die Warnung, Tortoise würden live gerne tief in den Inprovisationsgedudelsack greifen und aus der verzerrt-matschigen Post-Rock-Endlosschleife nicht herausfinden, konnte man schon nach den ersten Stücken getrost in den Wind schreiben. Denn was uns Tortoise an diesem Abend bieten ist ein ausgeklügeltes Set, dass zwischen alten Klassikern wie "Glass Museum" oder dem großartig trägen, tragisch schönem "Along The Banks Of Rivers" und neuen Perlen wie dem famosen Uptempo Track "Gigantes" oder dem vertrakten "Charteroak Foundation" hin und her wechselt. Gerade bei letzerem Stück werden alle Vorzüge von Tortoise transparent. Die Nummer beginnt mit einer zart gespielten Gitarrenakkordzerlegung und dreht sich mit dem einsetzenden Schlagzeugbeats.

Tortoise Live Wien WUK

Andreas Gstettner

Wie fragil der Sound von Tortoise ist zeigt sich, wenn Gittarist Jeff Parker, der größten Teils einen guten Job abliefert, eine Spur zu laid-back spielt und nicht mehr punktgenau auf Schlag ist. In solchen Momenten läuft eine Nummer Gefahr, zu zerbröckeln, was wiederum klar macht, welche Präzession und Konzentration eine Live-Performance der Band abringen muss. Insofern kann man ihre Musik durchaus als "verkopft" bezeichnen. Aber wenn das musikalische Uhrwerk von Tortoise wie geschmiert läuft, kann einem ein ausgetüftelter Track wie "Ten-Day Interval" mit seinen wundervollen Vibraphone- und Glöckchenmelodien schon kalte Schauer des Entzückens den Rücken runter jagen. Gerade wenn die komplex arrangierten Rhythmuselemente wie Zahnräder perfekt ineinandergreifen, liefern Tortoise ein großartiges Hörerlebnis ab. Das dabei wie schon vor fünfzehn Jahren ganz locker die Instrumente gewechselt werden, lässt eine gewisse Abgebrühtheit vermuten, die manche Stücke gegen Ende des Konzerts dann doch etwas durchwachsen wirken lässt.

Tortoise live Wien WUK

Andreas Gstettner

Und trotzdem, Tortoise präsentieren sich 2010 sehr grooveorientiert und scheinen - wenn man zwischen den Tönen hört - sowohl an ihren alten wie auch an ihren neueren Stücken wieder viel Spaß zu haben. Selbst das Versagen des Bassverstärkers bei der Zugabe, kann dem sonntäglichen, extravaganten Klangerlebnis keinen Abbruch tun.