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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

20. 11. 2010 - 13:30

Schuldig im Sinne der Anklage

Die Nazi-Führungsriege musste bei den Nürnberger Prozessen ihre Verbrechen verantworten. Zeitzeuge und Simultandolmetscher Siegfried Ramler war bei den Gerichtsverfahren dabei.

Am 20. November 1945, vor genau 65 Jahren und bereits ein halbes Jahr nach Kriegsende, begannen die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Kriegsverbrecher.

Urteile

  • Im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher wurden 12 der 22 Angeklagten zum Tode verurteilt, sieben erhielten langjährige oder lebenslange Haftstrafen, drei wurden freigesprochen.
  • In den Nachfolgeprozessen wurden 24 Angeklagte zum Tode verurteilt, 118 erhielten langjährige oder lebenslange Hafstrafen und 35 wurden freigesprochen.

Im ersten dieser Verfahren, dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946, verhandelte der Internationale Militärgerichtshof der alliierten Mächte gegen 22 Angeklagte - unter ihnen Reichsmarschall und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring, Rüstungsminister Albert Speer oder Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß.

Im Grunde hätten es aber 27 Angeklagte sein müssen. Doch bekanntlich hatten Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels noch im Führerbunker Selbstmord begangen. Genauso entzogen sich SS-Reichsführer Heinrich Himmler und Reichsleiter der NSDAP Robert Ley ihrer Verantwortung. Das Verfahren gegen den Rüstungsindustriellen Gustav Krupp wurde aus gesundheitlichen Gründen eingestellt und Martin Bormann, Leiter der Parteikanzlei war unauffindbar - er wurde in Abwesenheit verurteilt.
Zuletzt saßen also 21 hochrangige Nationalsozialisten auf der Anklagebank. Die Politiker, Militärs und Personen aus Wirtschaft und Presse mussten sich für das Planen und Führen des Angriffskrieges und den systematischen Massenmord an Millionen Menschen verantworten.

In den 12 Nachfolgeprozessen zwischen 1946 und 1949 wurden unter anderen Ärzte, Juristen und Industrielle angeklagt. So gab es z.B. einen eigenen Prozess gegen die I.G. Farbenindustrie AG, die Zyklon B für die Gaskammern in den Konzentrationslagern von einer ihrer Tochtergesellschaften produzieren ließ.

Als Übersetzer bei den Nürnberger Prozessen

Nürnberger Prozesse: Siegfried Ramler

Siegfried Ramler

Siegfried Ramler bei der Durchsicht eines Gerichtsprotokolls.

Der gebürtige Wiener Siegfried Ramler hat jeden dieser Prozesse hautnah miterlebt. Er war dem Team der amerikanischen Anklage als Simultandolmetscher unterstellt, und bereits in der Vorbereitung der Prozesse bei den Verhören von Hermann Göring, Rudolf Heß und anderen als Übersetzer anwesend.
Qualifiziert hatte er sich für diese Aufgabe mehr oder weniger autodidakt.

1938 floh er als 15-Jähriger mit einem Kindertransport nach London, wo er zunächst in einer Waffenfabrik arbeitete und am London County Council College, einer Art Volkshochschule, Englisch lernte. Später schloss er sich freiwillig den alliierten Truppen an und wurde Übersetzer für das 9th U.S. Air Force Service Command. Nach Kriegsende meldete er sich schließlich gegen den Befehl seines Vorgesetzten in Nürnberg und nahm bald darauf seine Arbeit auf.

Im Verhörraum

siegfried ramler bei der verleihung des goldenem rathausmanns in wien

W. Schaub-Walzer PID

Siegfried Ramler, geboren 1924 in Wien, lebt heute in Honolulu, HAWAII, wo er sích nach wie vor im Bildungsbereich und für internationale Austauschprogramme engagiert.
Über seine Arbeit bei den Nürnberger Prozessen hat er weltweit zahlreiche Vorträge gehalten und seine Erinnerungen in einem Buch niedergeschrieben.

Bei seinem Besuch in Wien wurde ihm der Goldene Rathausmann verliehen.

  • Siegfried Ramlers Vortrag am Institut für Zeitgeschichte der Uni Wien im Videostream.

Heute ist Siegfried Ramler 86 Jahre alt. Als ich ihn zum Interview treffe, hat er bereits ein vierstündiges Symposium zum Thema hinter sich. Man merkt seinen Antworten an, dass er sie schon viele Male gegeben und sie sich auf eine bestimmte Weise zurechtgelegt hat. Mehrmals beginnt er seine Ausführungen mit den Worten "oft werde ich gefragt".

Oft werde ich gefragt, was das Interessanteste an meiner Arbeit in Nürnberg war. Ich spreche dann immer von den sogenannten pre-trial-interrogations, also von den Verhören vor dem ersten Prozess. Das war das erste Mal, dass die Nazi-Führungselite zur Verantwortung gebracht wurde, und über ihre Taten, Überzeugungen und Beweggründe sprach. Zu diesem Zeitpunkt waren ihre Antworten noch nicht von einer Verteidigungsstrategie gefiltert. Sie kamen ganz spontan.

Er erzählt, wie Wilhelm Keitel und Alfred Jodl - beide gehörten zum Oberkommando der Wehrmacht - beim Betreten des Vernehmungszimmers die Hacken zusammenschlugen, oder von Rudolf Heß' vorgespielter Amnesie. Heß war 1933 zu Hitlers Stellvertreter ernannt worden, und aktiv an der Judenverfolgung in Deutschland und Polen beteiligt gewesen, bis er 1941 in Ungnade gefallen und für geisteskrank erklärt worden war. Bei seinen Befragungen gab er schließlich vor, sich an nichts erinnern zu können. Die Anklagebehörde war dem gegenüber sehr skeptisch, also versuchte sie seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, erzählt Siegfried Ramler.

Wir haben ihm verschiedene Menschen vorgeführt, die ihm sehr nahe standen, um zu sehen, ob er sie erkannte. Einige Verwandte sind bei diesen Gegenüberstellungen auf ihn zugelaufen und haben gerufen, Rudolf, Rudolf, aber er schreckte jedesmal zurück und sagte, es tut mir leid, ich kann Sie nicht erkennen, ich weiß nicht, wer Sie sind. Wir haben ihm auch Wochenschaubilder gezeigt, wo man ihn in seiner Uniform mit allen Auszeichnungen darauf sah. Damit wollten wir einen kleinen Schock provozieren, aber auch das ist nicht gelungen. Er wirkte zwar sehr aufgeregt, als er sich auf der Leinwand sah, aber danach sagte er bloß, ich kann mir meine Gegenwart bei den gezeigten Ereignissen nicht erklären. Vor Prozessbeginn hat er schließlich doch noch zugegeben, dass er sich an alles erinnern konnte, und sein Fall wurde mitverhandelt.

Ramlers Schilderungen sind lebendig, bleiben aber stets sachbezogen. Er erzählt, was er beobachtet und gehört hat. Wie er es empfunden hat, den ranghöchsten Nazis Auge in Auge gegenüber zu sitzen und zugleich unentwegt deren Worte in den Mund nehmen zu müssen, lässt er offen. Er spricht nicht von Gerechtigkeit oder Sühne. Auch wenn er direkt von Antisemitismus und Kriegsführung des Dritten Reichs betroffen war. Sein Großvater war im KZ Buchenwald umgekommen und seinen Eltern und den beiden Schwestern war buchstäblich im letzten Moment die Flucht nach Israel geglückt. Er selbst hatte sich viele Male im Luftschutzkeller vor den Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe während des "Londoner Blitz" verstecken müssen.

Das 12-köpfige Dolmetscherteam, dem Ramler von 1947 bis 1949 als Chef vorstand, hat Pionierarbeit bei der Entwicklung des Simultandolmetschens geleistet, wie es heute bei internationalen Konferenzen, UNO oder EU üblich ist. Jedes gesprochene Wort musste in den vier Verhandlungssprachen Deutsch, Englisch, Französisch und Russisch verständlich sein.

Dass er seine Emotionen nicht so einfach rekonstruieren kann, hat, wie er meint, auch damit zu tun, dass der Vorgang des Simultandolmetschens höchste Konzentration erforderte. In seinen Dienstpausen konnte er oft gar nicht sagen, was in den Verhandlungen zur Sprache gekommen war, obwohl er die ganze Zeit übersetzt hatte. Die Interpretation der Aussagen war damals zum Glück auch den Juristen überlassen, sagt er. Denn er selbst habe erst in den Jahren danach begonnen, sich mit den Inhalten der Prozesse näher auseinanderzusetzen und sich z.B. mit dem Vorwurf der Siegerjustiz oder der Kritik an den Anklagepunkten zu konfrontieren.

Im Schwurgerichtssaal 600

Schwurgerichtssaal 600 im Nürnberger Justizpalast während einer Verhandlung der Nürnberger Prozesse (s/w)

Siegfried Ramler

Der Schwurgerichtssaal 600 war der zentrale Schauplatz der Nürnberger Prozesse. Oben links sieht man die Kabinen der Dolmetscher. Ramler sitzt in der vorderen Reihe als Dritter von links.
Siegfried Ramler, Simultanübersetzer bei den Nürnberger Prozessen 1945-1949

Siegfried Ramler / http://sigramler.com

Siegfried Ramler sitzt in der oberen Reihe als Zweiter von rechts.

Auch aus dem Gerichtssaal weiß Siegfried Ramler einiges zu berichten. Reichsmarschall Hermann Göring z.B. galt zuletzt nach Hitler als der zweite Mann im Dritten Reich. Er war die dominante Figur auf der Anklagebank, und setzte alles daran, dass die Angeklagten als geschlossene Einheit auftraten. Während der Verhandlungen ließ er den einzelnen Strafverteidigern immer wieder Zettel reichen, auf denen er mitteilte, welche Themen zu behandeln, welche Fragen zu stellen oder welche Zeugen seiner Ansicht nach aufgerufen werden sollten. Das Gericht untersagte Göring diese Manipulationsversuche schließlich, und ließ Nachrichten aus seiner Hand nur dann weitergeben, wenn sie an seinen eigenen Anwalt gerichtet waren. Siegfried Ramler bekam hin und wieder einen dieser Zettel zu lesen, um zu überprüfen, ob dem auch wirklich so war.

Ramler saß auch an jenem Tag im Gerichtssaal, als den Angeklagten die Filmaufnahmen gezeigt wurden, die die alliierten Soldaten in den befreiten Konzentrationslagern gemacht hatten. Die Bilder von ausgemergelten Überlebenden, Gaskammern und Leichenbergen bewiesen das Ausmaß ihrer Gräueltaten, und waren für alle Anwesenden nur schwer zu ertragen, so Ramler.

Die Angeklagten zeigten darauf sehr, sehr starke Reaktionen. Hjalmar Schacht zum Beispiel, der frühere Präsident der Reichsbank, drehte der Leinwand demonstrativ den Rücken zu. Er wollte damit zeigen, dass er mit diesen Sachen nichts zu tun hatte. Er wollte sie sich gar nicht ansehen. Dann gab es auch einige wie Baldur von Schirach, Gauleiter von Wien, oder Hans Frank, Generalgouverneur in Polen, die sagten, wenn im Namen Deutschlands solche schrecklichen Sachen passiert sind, sind wir alle schuldig. Sie beteuerten also eine allgemeine, kollektive Schuld, aber keine individuelle. Sie stritten alles ab, sagten, persönlich hätten sie damit nichts zu tun, sie hätten nichts unterzeichnet, nichts gemacht und wären ja auch gar nicht dabei gewesen. Trotzdem war in ihren Augen ganz Deutschland schuld, wenn so etwas passieren konnte.

Buchcover "Die Nürnberger Prozesse: Erinnerungen des Simultandolmetschers Siegfried Ramler"

Martin Meidenbauer Verlag

Siegfried Ramlers Buch "Die Nürnberger Prozesse: Erinnerungen des Simultandolmetschers Siegfried Ramler" ist im Martin Meidenbauer Verlag erschienen.

Besonders erschütternd erscheint in diesem Zusammenhang die eidesstattliche Erklärung von Rudolf Höß, der als Kommandant des KZ Auschwitz ausführlich die Vernichtungsmaschinerie des Lagers beschrieb. Sie ist teilweise wörtlich in Ramlers Buch nachzulesen. Höß sagte in Nürnberg allerdings nur als Zeuge aus, und wurde später an Polen ausgeliefert, wo er 1947 zum Tod durch den Strang verurteilt wurde.

Die zwölf Todesurteile gegen die NS-Kriegsverbrecher in Nürnberg wurden am 16. Oktober 1946 vollstreckt. Göring zerbiss wenige Stunden zuvor eine Zyankalikapsel und starb in seiner Zelle.

Vermächtnis der Nürnberger Prozesse

Im Verlauf der 1950er Jahre, als Deutschland für die USA zunehmend als strategischer Verbündeter gegen die Sowjetunion wichtig wurde, wurden viele Strafen herabgesetzt. Zahlreiche der Verurteilten aus den Nachfolgeprozessen und drei der Hauptkriegsverbrecher wurden begnadigt und früher aus dem Gefängnis entlassen.
Siegfried Ramler erinnert sich, dass ihn das damals sehr getroffen hat. Trotzdem hatte er nie den Eindruck, dass seine Arbeit umsonst gewesen wäre. Es wäre nicht darum gegangen, was mit den Angeklagten geschieht, ob sie zum Tode verurteilt werden, oder nicht. Das Vermächtnis der Nürnberger Prozesse, schreibt er in seinem Buch, ginge weit darüber hinaus.

Der Prozess in Nürnberg beschritt völlig neue juristische Wege und wurde zum Meilenstein bei der Inkraftsetzung und Ausübung des Völkerrechts. Er war der Vorläufer und schuf überhaupt erst die Voraussetzungen für dem Prozess in Tokio, der im darauffolgendem Jahr stattfand; gleiches gilt für die späteren Verhandlungen vor dem Internationalen Gerichtshof von Den Haag gegen die Verantwortlichen des Krieges in Jugoslawien, für die Prozesse wegen des Völkermordes in Ruanda und insgesamt für alle Verfahren vor dem heute bestehendem Internationalen Gerichtshof. Nürnberg schuf den Grundsatz, dass die Berufung auf Befehlsnotstand niemals als Rechtfertigung für Völkermord anerkannt wird.