Erstellt am: 10. 11. 2010 - 21:01 Uhr
Das andere Eighties Revival
Vor knapp drei Wochen hab ich hier eine Story über das radikale Sparprogramm der britischen Regierung gebracht, über die chauvinistische Freude so mancher örtlicher MedienkommentatorInnen an der Vorreiterrolle Großbritanniens im Gürtel-um-die-Wette-enger-Schnallen und ihren Stolz darauf, wie das eigene Volk sich so gemessen und besonnen, so anders als diese durchgedrehten Franzosen da drüben auf die kommenden harten Zeiten einzustellen schien.
Ich schloss mit der Feststellung, dass das endlos scheinende Achtziger-Revival gerade erst begonnen habe – und zwar auf politische Art in Form einer Rückkehr des Thatcherismus und all seiner gesellschaftsverhärtenden Begleiterscheinungen. Die heutigen Ereignisse haben das auf dramatische Weise bestätigt.
Donkey Jackets and Oxblood DMs

flickr
Die Achtziger in Großbritannien waren nämlich nicht bloß Schulterpolster, Yuppies auf Koks, Bands auf Yachten, schlecht beratene Drum Sounds und Phil Collins im übergroßen Spannermantel mit aufgekrempelten Ballonärmeln, nein, sie waren auch das Gegenteil davon: Schauplatz einer danach nie wieder so praktizierten, politischen Intensität, die fast alle jugendlichen Subkulturen auf die eine oder andere, linke oder rechte Art zu erfassen schien und sich aus heutiger Sicht eben nicht in Form anämischer Elektropop-Revivals und neonfarbenen Hipster-Anti-Chics neu wiederverwerten lässt.
Das heißt, vielleicht sollte ich mir da nicht so sicher sein. Polierte Oxblood-Doc-Martens, Donkey Jackets und schwarze Hochwasserhosen zu am Hinterkopf hoch gestuftem, vorne zerzaustem Haar sind wieder omnipräsent, und die zugehörigen Kampfschriften kommen vielleicht auch noch in Mode, wenngleich diesmal elektronisch statt stapeldick unterm Arm zum Verteilen am Brixton Market oder vor der Underground-Station.
Liebes ORF-Gesetz, dies ist ein sendungsbegleitender Beitrag, ich habe nämlich meinen Soundtrack zu diesen anderen Achtzigern vor zwei Wochen in meiner Sendung gespielt, nicht den Punk, nicht den Noise, sondern den politischen Pop, von Stephen Tintin Duffy über The Style Council bis zu den Housemartins und natürlich Billy Bragg. Und ja, der hat auch heute noch seinen Senf dazu abzugeben. Sag ich ja, als wären die Achtziger nie vergangen.

flickr
Inhaltlicher Stoff ist schließlich reichlich vorhanden, der Zorn ganz offensichtlich auch. Heute haben sich geschätzte 52.000 Studierende auf Londons Straßen versammelt, und von der angeblich steifen Oberlippe war trotz Bibberkälte nichts zu merken.
Nicht dass ich mitgezittert hätte, ich war zu Hause, mein Kopf woanders, und die selektive Wahrnehmung meiner sozialen Netzwerke (dieser als Neuigkeitenquellen nur höchst begrenzt tauglichen, weil perfekten Parallelrealitätsfabriken) kreuzt offenbar kaum mehr die der Londoner StudentInnen.
52.000 zornige StudentInnen in Westminster - damit hatte die Metropolitan Police nicht gerechnet
Aber selbst wenn ich von der Demo gewusst hätte, wär ich wohl nicht hingegangen. Weil von außen her nichts darauf hingedeutet hatte, dass der Widerstand gegen die Regierungslinie sich so schnell radikalisieren würde. Dafür spricht auch das erstaunlich geringe Aufgebot der bei solchen Anlässen sonst immer überrepräsentierten Metropolitan Police.

flickr
Die flickr-Filmchen hier (der von den Eindringlingen ins Millbank-Gebäude gerufene Slogan ist "Tory scum!") und hier
Die verwaschenen Bilder zu dieser Geschichte sind demnach allesamt geborgt aus zwei von der Berichterstattung des Guardian aufgegriffenen, auf flickr veröffentlichten Filmchen, die offenbar von einem Angestellten des Bürogebäudes 30 Millbank aufgenommen wurden.
Unter jener Adresse, nur einen kleinen Fußmarsch entlang der Themse entfernt von den Houses of Parliament, findet sich nämlich die Zentrale der Conservatives (ironischerweise hauste im zum selben Komplex gehörenden Millbank Tower nebenan zur Hochblüte der Blair-Ära die Labour Party). Das Glasportal des eleganten Sixties-Gebäudes wurde bei den heutigen StudentInnen-Protesten erst belagert, dann vollkommen verwüstet.

flickr
Während ich das nun schreibe, sieht man im Fernsehen Bilder einer völlig zerstörten Lobby und Bilder jener DemonstrantInnen, die es am Nachmittag bis auf das Dach das Gebäudes schafften und einen Feuerlöscher auf die Polizei herab warfen (worauf die Menge mit dem spontanen Skandieren der Parole „Stop throwing shit!“ reagierte).
Natürlich hagelt es nun Verurteilungen, und die StudentInnengewerkschaft muss sich von den randalierenden Elementen im Demonstrationszug distanzieren. Aber die Strahlkraft solcher Bilder ist nicht zu unterschätzen.
The English like a riot
Die Kürzungen in den Uni-Budgets und die Erhöhungen der Studiengebühren gehörten, wie hier berichtet, zu den ersten angekündigten Maßnahmen des konservativ-liberalen Sparprogramms, dessen populäre Basis auf sehr wackligen Füßen steht.

flickr
Schließlich stützt sich seine Parlamentsmehrheit auf die Stimmen jener Liberaldemokraten, die in ihrem Wahlkampf vor einem zu radikalen konservativen Sparkurs warnten und deren Abgeordnete gar vor der Studentengewerkschaft feierliche Ehrenwörter abgaben, keine Erhöhung von Studiengebühren zu unterstützen (dass die StudentInnen heute vor dem konservativen, nicht dem liberalen Hauptquartier demonstrierten, sollte Liberaldemokraten wenig trösten. Es deutet eher darauf hin, dass sie dank ihres bisherigen Beitrags zur Regierungspolitik bereits als politische Nullität empfunden werden).

flickr
Noch hat – bis auf das über den Sommer abgebrochene Schulbauprogramm – keine der beschlossenen Kürzungen wirklich zu beißen begonnen.
Was heute passiert ist, deutet also auf einen neuen Aspekt des politischen Achtziger-Revivals hin.
Die Rückkehr einer alten englischen Tradition, die sich besonders gern wieder belebt, wann immer große Mengen zorniger junger Menschen ziellos unterwegs sind: Der street riots.