Erstellt am: 24. 10. 2010 - 14:09 Uhr
Last of the Steam Powered Songwriters
Altersmilde ist ein irreführendes Wort, weil es so tut, als ginge diese Milde nur von der einen in die andere Richtung. Ist ja nicht so, ganz im Gegenteil. Du kannst alt werden und pausenlos über die verkommene Welt und ihre verkommene Bevölkerung zetern, und man wird dir mit Milde begegnen.
Ernst nehmen wird man dich zwar nicht mehr, ignorieren schon eher, aber dein Gewinn an Flegelfreiheit macht diese Einbußen locker wert, und das Ergebnis bleibt dasselbe. Folglich werdet ihr es auch mit Milde ertragen, wenn ich alter Depp euch jetzt sage, dass das früher einmal zumindest in der Welt des Pop keineswegs so war. Einst in den Siebzigern, Achtzigern, ja selbst noch in den frühen Neunzigern war kein Übriggebliebener aus der ersten Rock-Generation vor der blanken Häme der Nachgeborenen gefeit.
If my friends could see me now...
Es war wohl eine eher gezwungene Häme, pures kompensiertes Fantum gemischt mit dem natürlichen Minderwertigkeitskomplex der Nachgeborenen, aber der beharrlich gute Wille, mit dem dieser Tage dem Alterswerk eines Bryan Ferry, eines Brian Eno oder Neil Young begegnet wird, ist eigentlich nicht minder pathologisch. Insofern hat es mich erstaunt, als letztens der Kinks-Fan Hubert Weinheimer vom Trojanischen Pferd im Kreis eines gewissen sozialen Netzwerks die virtuellen Zornpusteln zur Schau stellte, die ihm die Nachricht von “See My Friends”, dem neuen Album des Kinks-Songschreibers Ray Davies, ins Gesicht getrieben hat.

raydavies.info
An diesem nach der klassischen Sell-Out-Formel "Ich spiele mit berühmten Leuten meine alten Hits und maximiere so die Zielgruppe” zusammengewürfelten Projekt sollten nämlich unter anderem Metallica und Jon Bon Jovi teilnehmen, und das kommt nach Huberts Einschätzung einem Defäzieren des Ray Davies auf sich selbst und sein eigenes Werk gleich.
Ich weiß nicht ganz.
Ich hoffe, es ist nicht meine eigene pathologische umgekehrte Altersmilde, die mich das denken lässt, aber ich habe eine Legitimation für “See My Friends” parat: Ein Songschreiber bemerkt, dass seine Songs sich verselbständigt haben. Die “Friends” sind nicht Paloma Faith oder Metallica, Black Francis oder Jon Bon Jovi, Spoon oder Jackson Browne, sondern die Songs selbst.
Sie haben im Leben ihrer HörerInnen ein Zuhause gefunden, sich an deren Obstkörben und Schnapsvorräten bedient, ihre Jacken und Hosen angezogen. Und Ray Davies, ihr Autor, kommt sie jetzt besuchen.

raydavies.info
So ungefähr hab ich ihm jedenfalls meine These erklärt, als ich ihn vor zwei, drei Wochen in seinen Konk-Studios in der Nordlondoner Vorstadt besucht hab. Und er war einverstanden.
Es war mein zweites Ray Davies-Interview in 12 Jahren, und im Gegensatz dazu, was ich sonst immer über ihn als berüchtigten Grantler zu lesen und zu hören pflege, war er auch diesmal wieder auf eine zurückhaltende Art sehr freundlich und zuvorkommend. Vielleicht auch, weil ich ihn als erstes auf den ebenfalls auf “See My Friends” vertretenen, heuer verstorbenen Alex Chilton angesprochen habe.
...all my friends would ask me what it's all leading to
Chilton ist für Ray Davies “something of a cause” geworden, sagt er, sein Gedenken eine Berufung. Die beiden waren befreundet, seit Davies Chilton in New Orleans über seine damalige Freundin kennen lernte, nachdem er selbst auf der Straße angeschossen worden war und sich ein paar Monate in Chiltons Gesellschaft von seinen Wunden erholte.
Die offene Art, in der Ray Davies über die Arbeit mit den MusikerInnen auf “See My Friends” und über die Sterblichkeit seiner alten Gefährten sprach (Kinks-Bassist Pete Quaife ist unlängst gestorben, Rays Bruder Dave erholt sich immer noch von einem Schlaganfall), blies jedenfalls alle zynischen Gedanken weg, die ich anfangs diesem Projekt gegenüber hatte.
FM4 Heartbeat, Mo 25.10., 22-00 Uhr auf FM4
FAQ: Was, schon wieder ein Rotifer-Heartbeat? Wäre diese Woche nicht Eva Umbauer dran?
Doch, wäre sie, aber sie ist gerade verhindert, und nachdem ich sowieso auf eine Woche übern Teich muss und somit für nächste Woche vorproduzieren hätte müssen, ziehen wir die Ray Davies-Sendung vor.
Das Album "See My Friends" kommt allerdings erst am 5.11. raus.
Nein, ich werde mir die “You Really Got Me”-Version von Metallica sicher nicht noch einmal anhören und in meiner Heartbeat-Sendung diesen Montag wird sie auch nicht vorkommen, aber wenn Mumford & Sons gemeinsam mit Ray, der fast schon ihr Großvater sein könnte, ausgerechnet die beiden Herzzerreißer “Days” und “This Time Tomorrow” covern, dann löst das schon was aus in meinem sentimentalen Gemüt.
A propos Heartbeat: Nach dem Ray Davies-Interview wird es darin auch einen Soundtrack zu meiner letzten Webstory Cut! Cut! Cut! in Form eines kleinen Mixes der anderen, vom Revival weithin unberührten Achtziger geben, die rein gar nichts mit Schulterpolstern und Stirnbändern zu tun hatten und Popmusik nicht bloß als Zeitgeist, sondern auch noch ernsthaft als Widerstandsmedium verstanden.
Obwohl, wenn ich mir die Oxblood-Dr.Martens anseh, in denen die jungen Hipsters letzte Woche zu Michael Rothers Neu!-Revival im Barbican angetanzt sind, frag ich mich, ob da vielleicht doch noch was draus wird, nur optisch natürlich …