Erstellt am: 22. 10. 2010 - 16:53 Uhr
Cut! Cut! Cut!
Es wäre so schön symbolisch und passend gewesen. Überfordert wie üblich bin ich vorgestern über meiner britischen Steuererklärung gesessen und hab mir gleichzeitig die Rede des Chancellor of the Exchequer zu seinem Comprehensive Spending Review angehört. Ein spannendes Leben, ich weiß, aber nicht gleich wegnicken, Finanzministerreden sind hier traditionell eine der packendsten Darbietungen überhaupt, eine Art politisches Derby-Match, jedenfalls was die Lautstärke der Schlachtrufe beider Seiten angeht, mit zwei auffälligen Unterschieden:
- Im Unterhaus gibt es noch Stehplätze, weil mehr Abgeordnete als Stauraum auf den grünen Bänken.
- Die regierende Seite gewinnt immer, egal wie gut oder schlecht sie spielt.
George Osborne, der Schatzkanzler, war wie immer ein Bild der dezenten Klassik in edlem Dunkelblau, schließlich ist er nicht nur der Spross einer wohlbetuchten Nobel-Tapetenhersteller-Dynastie, sondern ging als solches auch auf die St. Paul’s-Schule, ein Prestige-Stall unter den britischen Institutionen der systematischen Kindesmisshandlung, wenngleich immer noch eine Stufe unter Eton und Harrow, der Alma Mater seiner späteren Kollegen beim elitären Bullingdon Club in Oxford (wie zum Beispiel David Cameron und Boris Johnson), die ihn deshalb scherzhalber einen "oik"* zu nennen pflegten. Er hat folglich immer schon gleichzeitig ausgesorgt und trotzdem was zu beweisen gehabt, ein für die Entwicklung seiner Politikerpersönlichkeit vielleicht nicht unwichtiges biographisches Detail.
* "oik" = Mitglied des Pöbels

Robert rotifer
Vor lauter Stress der letzten Tage hatte der Arme sich offenbar verkühlt, also musste er sich laufend räuspern und zum Wasserglas greifen, aber er stand tapfer am Pult und ratatatatatterte sein ganzes Manifest runter, von der neuen Ära eines neuen starken Britiannien, das neuerdings nie wieder über seine Verhältnisse leben wird, und mit jeder Kürzung, jeder Rationalisierung, jedem Zusammenstutzen allzu großzügiger Sozialleistungen, jeder Zerschlagung sinnloser Geschwüre des öffentlichen Sektors, ging ein Johlen und Jauchzen sondergleichen durch die Reihen hinter ihm.
Als er dann fertig war, wurde der Oik von seinem Premier und seinem untergebenen Minister (=Staatssekretär) Danny Alexander in männerfreundschaftlicher Manier halb liebkost und halb schultergeklopft. Was George in seinem Fieber vorgelegt hatte, sollte, so waren sich die KommentatorInnen nachher nebst untermauernder Nennung gänzlich unterschiedlicher, geschätzter, hochgerechneter und sonst wo abgeschriebener Zahlen sicher, alles verändern.
Auf Channel Four fragte der Frankreich-Korrespondent die französische Finanzministerin allen Ernstes selbstgefällig, ob sie sich nicht manchmal so ein vernünftiges Volk wie die Briten wünsche, das auf einen Rückbau der Sozialhilfe, Kürzungen der Mietbeihilfe, einer Halbierung des Budgets für sozialen Wohnbau, die Abschaffung der Kinderbeihilfe für alle, die mehr als 45.000 Euro verdienen (klingt nach recht viel, ist es in London aber nicht), Erhöhungen des Pensionsalters auf 66 und avisierte 500.000 Kündigungen im öffentlichen Sektor nicht mit Straßenkampf, sondern mit zustimmender Besonnenheit reagiere.
Ich hätte wie gesagt gern als steuererklärender Fackelträger der Skepsis in das patriotische Claquieren mit eingestimmt, aber es wurde alles noch unerwartet symbolträchtiger, weil just zu diesem Zeitpunkt mein Computer spontan die Arbeit niederlegte und mich in der Erfüllung meiner Steuerzahler- und Blogger-Pflichten jäh unterbrach.
BBC im Blutrausch
Bis zum Ende der Newsnight hatte sich die analysierende Journaille der BBC dann schon in einen derartigen Strudel des euphorischen Masochismus hinein gesteigert, dass selbst der sonst so kritische Jeremy Paxman bereits schwelgte, es sei "eine aufregende Zeit, am Leben zu sein" (Ja, liebe Enkel, ich war dabei, als sie den Wohlfahrtstaat demontiert haben!). Die ExpertInnen rund um ihn einigten sich indessen darauf, dass nun wohl die ganze Welt auf Großbritannien schaue, um zu lernen, wie man so eine Staatssanierung radikal angeht. "So spannend", meinte einer von ihnen, "war es schon seit Thatcher nicht."
Wie haben sich dabei wohl die MitarbeiterInnen des bisher vom Foreign Office finanzierten BBC World Service gefühlt, dem buchstäblich über Nacht mit einem Schlag sämtliche staatlichen Förderungen entzogen wurden (ab jetzt soll die Rundfunkgebühr dafür zahlen, was in der Realität ein radikales Zurechtstutzen des nicht nur historisch eminenten World Service bedeutet).

Robert Rotifer
Am Tag danach saß ich nun in einer Gastro-Nische des Einkaufszentrums Bluewater direkt an der Themesenscheide zwischen Kent und Essex mit der Rechnung für meinen Laptop in der Brusttasche (die Garantie war noch nicht abgelaufen) und wartete auf meinen Termin an der - Augenrollen - "Genius Bar", auf dass ein Herr in blauem T-Shirt dem sinnlosen Ziegel wieder Leben einhauchen möge.
Saß und schrieb das hier (falls sich jemand fragt, wie das geht) auf meines erstummten Blechziegels verdientem Vorgänger, der immer noch tut wie früher, als ich ihn zwangspensioniert hab, nämlich sehr langsam aber doch.
Banken machen keine Burger
Auf meiner Suche nach Sitz, Tisch und warmem Getränk hatte ich die Coffee Republic links liegen gelassen. Die hat was von der verblichenen New Labour-Ära an sich, wo sie geglaubt haben, sie könnten die angelsächsische Krawallmacherseele an der kontinentalen Café Culture genesen lassen.
Ich entschied mich lieber für die gefaketen Fifties-Vibes von Ed’s Diner. Die passten besser in die neue Zeit des frisch erstarkten Revolverkapitalismus.
An der Wand gegenüber stand der klassisch amerikanisch gemeinte Spruch: "We don't make loans, and the bank doesn't make Hamburgers."
Ich schrieb:
Der Trick, der George Osborne bei seiner Rede gelungen zu sein scheint, ist die tatsächlich schwierige budgetäre Lage Großbritaniens statt als Konsequenz des Banken-Crash 2008 als Ergebnis von Labours Spendierwut zu präsentieren.
Nun gibt es Gegenden im Norden der Insel, wo neben einer Arbeitslosigkeit von um die zehn Prozent der öffentliche Sektor die Hälfte der Erwerbstätigen stellt. Was vor allem auf die Zerschlagung und Vernachlässigung der traditionellen Industriezweige zugunsten der Dienstleistungs- und Finanzwirtschaft in der Ära Thatcher-Major-Blair zurückgeht.
Die Theorie der jungen Tutter an der Spitze der Regierung ist, dass der private Sektor mit dem Rückweichen des öffentlichen Sektors automatisch erblühen und neue Jobs erschaffen wird.

Robert Rotifer
So als gäbe es nicht das Problem der Banken, die sich weigern, solchen Klein- und Mittelbetrieben Startkapital zu borgen. So als wäre ausgerechnet das fast schon unterwürfig unternehmerfreundliche New Labour-Projekt bisher so brutal staatsmonopolistisch verfahren, dass private Investoren gar keinen Platz mehr zum Gedeihen gefunden hätten. So als wäre die Privatwirtschaft nicht die längste Zeit über privat/öffentliche Partnerschaften von der öffentlichen Hand aufgepeppelt worden. So als hätte nicht gerade die neue Regierung die bestehenden Fonds zur Förderung von Unternehmen in den Regionen abgeschafft. So als würde der aufgrund des Wegfallens dieser Aufträge zu erwartende Anstieg der Arbeitslosenzahlen den Staat nicht ein potenzielles Vielfaches der Ersparnisse durch die jetzigen Kürzungen kosten.
Und dann sprach Rupert
Da hörte dann mein Blog auf, weil der Genius auf mich wartete, und was soll ich sagen, der Patient blieb tot. Keine schlauen Tricks brachten ihn mehr zum Laufen. Wie gesagt, alles fast schon spukig symbolisch.
Und jetzt im Zug sitzt mir gegenüber ein Pendler und liest in der "Sun" einen Artikel darüber, dass deren Eigentümer Rupert Murdoch (ein Australier, wohlgemerkt) die britische Regierung auffordert, in ihrem Kurs standhaft zu bleiben wie einst Margaret Thatcher: "Like the Lady, the coalition must not be for turning."
Keine Vortäuschung redaktioneller Unabhängigkeit mehr, hier geht es offenbar um die Wurst.
Sieht so aus, als hätte das eh schon so endlos scheinende Achtziger-Revival gerade erst ernsthaft begonnen.