Erstellt am: 10. 10. 2010 - 14:17 Uhr
Wieder nichts passiert
Es ist nichts passiert. Das ist die Neuigkeit, gewissermaßen.
Vorgestern bin ich stundenlang durchs sonnige London gezogen, von Bermondsey zur Butlers' Wharf, entlang der Themse über den Borough Market bis zur Tate Modern, dann über den Steg in die City, quer durch Farringdon, durch Clerkenwell bis hinauf nach St. Pancras.
Ein Feature für ein Reisemagazin war die willkommene Ausrede, mir keine fixe Route, keine bestimmten Zwischenziele vorzuschreiben. Das sind dann die Gelegenheiten, wo die Absurditäten, die man sonst ausblendet, in den Vordergrund rücken.
Es war der Tag, an dem Frankreich seine StaatsbürgerInnen aufforderte, sich von London und seinen Sehenswürdigkeiten fernzuhalten, weil dort unmittelbare Terrorgefahr bestehe. Diese Warnung war ihrerseits natürlich nicht mehr als eine Art Vergeltungsschlag.
Schließlich hatten die Briten zwei Tage zuvor vor Fahrten nach Deutschland und Frankreich gewarnt. Ihrerseits taten sie das im Anschluss an dieselbe Warnung seitens der Amerikaner, die US-BürgerInnen vom Urlauben in Deutschland, Frankreich und Großbritannien abgeraten hatten.
Es bedarf keiner sonderlichen Paranoia, um einen Zusammenhang jenes ursprünglichen Appells an die vereinende Macht der Terrorangst mit den kommenden Kongresswahlen in den USA zu orten. Und so wenig ich mich über einen Sieg der irren Tea Party-RepublikanerInnen freuen würde, so tief steckt mir immer noch der Witz von Barack Obama beim Correspondents Association Dinner im Mai in der Kehle.
Die Drohnen fliegen für uns
Der Heuler, dass die Jonas Brothers sich besser nicht an seine Töchter heranmachen sollten, weil er ihnen sonst Killerdrohnen an den Hals schickt, ist seither nicht lustiger geworden. Erst neulich wurden in Pakistan auf diese Weise acht deutsche mutmaßliche Islamisten (oder waren es doch fünf deutsche und drei andere?), dann wieder ein Brite beseitigt (getötete Pakistani bleiben ungezählt), was im Gegensatz zu den meisten solcher Angriffe den Medien hier wie da zumindest ein paar Meldungen wert war.
Die liberale Süddeutsche übernahm dabei in ihrem Bericht unkritisch ein kurioses Element der inoffiziellen Erklärung eines anonymen pakistanischen Geheimdienstlers, wonach sich in einem Terrorcamp 60 „türkischstämmige“ und eine unbestimmte Anzahl „gebürtiger“ Deutscher in Nordwaziristan aufhielten. Was uns diese Differenzierung sagen soll, bleibt unklar, aber der mit xenophoben „Eh klar“-Reflexen spielende Effekt der Meldung kommt an.
Was wiederum den getöteten Briten angeht: Abdul Jabbar, der Anfang September in einem von 21 US-Angriffen auf mutmaßliche Terroristencamps in Pakistan umgebracht wurde, soll laut pakistanischen Quellen vor mehreren Leuten damit geprahlt haben, dass er eine "Islamic Army of Great Britain" gründen wolle.
Diese Information allein war offenbar schon sein Todesurteil, auch wenn britische Anti-Terror-Beamten beschwören, es gäbe keine Hinweise darauf, dass Jabbar seine Wunschträume auch nur ansatzweise verwirklicht habe.
Trotzdem hat die Tötung eines Briten auf pakistanischem Territorium in seinem Heimatland wenig Aufregung hervorgerufen, obwohl die britische Regierung die Drohnenattacken zumindest offiziell nicht gutheißt.
Pakistan "in Brand gesetzt"
ZynikerInnen, denen rechtliche Formalitäten bezüglich des Lebensrechts von Leuten, die sich an falschen Orten aufhalten, egal sind, mögen sich trotzdem noch fragen, ob die Taktik solcher Präventivschläge auch tatsächlich – wie stets behauptet – „unserer Sicherheit“ dient.
Wie Wajid Shamsul Hasan, der pakistanische Hochkommissar in Großbritannien im vorgestrigen Guardian sagt, haben die amerikanischen Angriffe in Pakistan sein Land „in Brand gesetzt“. Der daraus entstehende Zorn sei eine „Bedrohung des demokratischen Systems“. Schließlich hat die pakistanische Regierung keine andere Wahl, als die Luftangriffe der USA zu dulden bzw. durch die eigene Geheimdienstarbeit zu unterstützen. Wie das bei der Bevölkerung ankommt, kann man sich gut vorstellen. Der Islamismus braucht sich um neue RekrutInnen nicht zu sorgen.
Gleichzeitig drohen die USA nun der verbündeten pakistanischen Armee mit einem Entzug von zwei Milliarden Dollar Finanzhilfe, weil ein amerikanisches Gesetz aus dem Jahre 1997 (also noch lange vor der Legitimierung von Waterboarding oder den Gräueln von Abu Ghraib) die Unterstützung von Armeen untersagt, die sich „grober Menschenrechtsverletzungen“ schuldig machen. Anlass ist ein grobpixeliges, mit einer Handykamera aufgenommenes Video, das zu zeigen scheint, wie pakistanische Soldaten im Zuge ihrer Jagd auf die Taliban sechs junge Männer exekutieren.
Skandalös wie das, falls wahr, zweifellos wäre: Ist die Tötung von Menschen durch ferngesteuerte Drohnen denn wirklich so viel rechtmäßiger? Weil niemand drin sitzt und aus nächster Nähe auf den Abzug drückt?

Robert Rotifer
Aber vielleicht bin ich mit meiner Geschichte hier schon viel zu weit abgeschweift. Im wirklichen Leben bin ich bloß die sauber gepflasterte Promenade vor der Londoner City Hall entlang gegangen, wo laut diversen Hinweisschildern kaum was erlaubt ist außer Herumstehen oder Entlanggehen, hab die graue HMS Belfast an ihrem permanenten Pier im graugrünen Wasser liegen und die glatten Glasfassaden rundherum glänzen gesehen, im Hintergrund die Sicherheitskräfte in ihren neongelben Jacken, die den Touristen argwöhnisch zusehen, wie sie einander vor dem alten Kriegsschiff fotografieren. Es war genau jene Art von prominentem Ort, an dem die französische Regierung einen Terroranschlag für „höchstwahrscheinlich“ hält; abgesehen von öffentlichen Verkehrsmitteln.
Die Aufsichtspflicht der Studierenden
LondonerInnen haben das auch vorher schon gewusst, Sie haben längst gelernt, die Durchsagen auszublenden, die einen in Bahnhöfen und Underground-Tunneln auf Schritt und Tritt daran erinnern, dass man zur Überwachung der eigenen Sicherheit gefilmt werde und alles Verdächtige sofort dem Personal zu melden sei.
Wenn es nicht so ein müdes Klischee wäre, würde ich sagen, es geht zu wie beim alten Orwell. Noch dazu, wo ich gerade an der Telescreen sitze. Aber das wäre dann doch ein koketter Vergleich, schließlich darf ich schreiben, was ich will, und weiß, dass die Gedankenpolizei hierzulande immer noch mit sich reden lässt.
So wurde etwa das Londoner University College unlängst vom Bericht einer unabhängigen Kommission des Verdachts enthoben, die Anzeichen der Radikalisierung des nigerianischen Studenten Umar Farouk Abdulmutallab übersehen zu haben.
Abdulmutallab hatte letzte Weihnachten als Unterhosenbomber mit seinem gescheiterten Anschlag auf einen Flug nach Detroit Schlagzeilen gemacht.
Big Brother is deeply sorry
Die Universitäten und StudentInnenvertretungen sind schon seit Jahren angehalten, nach ExtremistInnen unter den Studierenden Ausschau zu halten und jede geringste Ahnung der Verbreitung gefährlichen Gedankenguts umgehend zu melden. In diesem Fall hat die Universität selbst die nachträgliche Prüfung ihrer gewissenhaften Wahrnehmung dieser Überwachungspflicht veranlasst. Man will sich ja nichts nachsagen lassen.
In der Zwischenzeit hat in Birmingham die Polizei ein mit Anti-Terror-Geldern finanziertes Netzwerk von über 200 an Bäumen und Lichtmasten installierten Kameras abgedreht, die zwei hauptsächlich von Moslems bewohnte Vierteln von Birmingham flächendeckend überwachen sollten.
Nach Protesten seitens der Bevölkerung hat der Große Bruder bzw. der Polizeichef sich zutiefst für die negativen Auswirkungen auf „das Eindringen ins Privatleben der Bevölkerung“ auf die „starken Verbindungen zwischen der West Midlands Police und unseren Communities“ entschuldigt („unsere Communities“ = Newspeak für "alle, die nicht zur weißen Mehrheit gehören") .
Solche Demut vonseiten der Exekutive hatte Orwell nun wirklich nicht vorausgesehen. Dabei lässt sich der Fehlgriff, den der eifrige Chief Constable Sims mit seinem ehrgeizigen „Project Champion“ tat, durchaus nachvollziehen, gab es doch andererseits wieder das von ganz oben sanktionierte „Channel Project“, bei dem selbst moslemische Schulkinder schon gezielt auf ihr künftiges Radikalisierungspotenzial untersucht wurden. Man kann diese Widersprüchlichkeiten im Systems als klassische Doppelmoral werten. Oder einfach als Zeugnis allgemeiner Verwirrung. Wieso sollte die Anti-Terror-Strategie dieses Landes auch schlüssiger organisiert sein als, sagen wir, seine Spitäler oder Eisenbahnen?
Da saß ich nun also in letzterer auf dem Weg nach Hause und las die Leuchtanzeige, die mich einmal mehr anwies, alles Verdächtige „immediatelly“ (sic!) dem Schaffner, Verzeihung, „train manager“ zu melden.

Robert Rotifer
London war hinter mir. Das Höchstwahrscheinliche war wieder einmal nicht passiert.