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Barbara Köppel

Durch den Dschungel auf die Bühne des Lebens.

20. 9. 2010 - 16:20

Theaterherbst im ganzen Land

Freiluft-Porno, Kreisky und die sieben Todsünden. Eine Vorschau auf den Theaterherbst, zusammengefasst in einem Panoptikum der Mutmaßungen.

Wien

Zum Saisonauftakt am 24. September präsentiert das Brut gemeinsam mit dem Grazer Theater im Bahnhof "Knochen und Raketen", eine Pornokomödie unter dem freien Himmel des ehemaligen Flugfelds Aspern. Der Pressetext verrät, aus dem Drehbuch des angeblich besten Pornofilms aller Zeiten "The Opening of Misty Beethoven" (1976) werden Sequenzen, Dialoge und Regieanweisungen herausgelöst und mit einem Kasachstan-Reisetagebuch kurzgeschlossen. Das klingt nach Kamasutra am Lagerfeuer – eine durchaus reizvolle Phantasie, für ZuschauerInnen ab 18 Jahren. Noch ein Tipp: Feldstecher mitbringen!

Im Oktober und November steht im Brut-Künstlerhaus dann wieder Familientauglicheres auf dem Programm. Beim "Themenschwerpunkt Erbgut" treten Zwillinge, „normale“ Geschwisterpaare und Väter und Töchter auf und untersuchen, inwieweit Vererbung, Sozialisation oder Zufall unsere Identitäten bestimmen.

Ein Mädchen-Zwillingspaar in Partnerlook, Szenefoto aus That Enemy Within

Doro Tuch

Der Zwilling - für die argentinische Regisseurin Lola Arias "That enemy within"

Auch das Schauspielhaus Wien hält Rückschau, wer uns zu denen gemacht hat, die wir heute sind. Gesellschaftspolitisch betrachtet quasi. Mit "Kreisky – wer sonst?" widmet sich das Schauspielhaus dem am längsten dienenden Bundeskanzler der Zweiten Republik. In einer zehnteiligen Serie wird Bruno Kreiskys Biographie und politisches Wirken zwischen staatsmännischer Souveränität und allzu österreichischem Opportunismus aufgespannt. Am 22. Jänner 2011 wäre Bruno Kreisky 100 Jahre alt geworden.

Was aber wäre die Vergangenheit ohne die Gegenwart? Eben.
Deswegen zeigt das Schauspielhaus noch im Oktober PeterLichts "Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausends". Jenen Text, den PeterLicht 2007 beim Wettlesen um den Bachmann-Preis vorgetragen hat, und dafür den 3sat- und den Publikumspreis bekommen hat. Kommen wird er allerdings nicht. Der Text ist zu einem Solostück für einen Schauspieler gekürzt worden. Zum Glück wirken PeterLichts Worte aber auch ohne sein Gesicht. Damals hat er es ja auch vor den Fernsehkameras versteckt. Kreisky hätte das vermutlich nie getan.

Kreisky hat aber zu Beginn seiner Amtszeit Kernkraftwerke befürwortet. Bis die ÖsterreicherInnen 1978 beschlossen haben, Zwentendorf wäre vielleicht doch keine so gute Idee. Ab Ende September zeigt nun "Das NEïD-Projekt von Hubert Canaval" im Wiener Salon 5 was passiert, wenn eine radioaktive Wolke in Richtung Wien zieht. Mindestens so furchteinflößend wie Stephen Kings zornige Telekinese-"Carrie", die beim Abschlussball die versammelte High School lyncht.

Niederösterreich

Ein paar ausgerastete Teenager hat auch das Szene Bunte Wähne Theaterfestival zu bieten. Vom 24. September bis zum 2. Oktober feiert es sein 20. Jubiläum in Horn, Zwettl, Langenlois, St.Pölten, Krems und im tschechischen Jindrichuv Hradec. Der "Teenage Riot" einer belgischen Gasttruppe eröffnet die Festivitäten, und der "Aussetzer", in dem ein verzweifelter Schüler seine Lehrerin niederprügelt, wird die Partystimmung bestimmt nicht lange dämpfen.

Oberösterreich

Mord und Totschlag, allerdings auf griechisch antik, gibt es die ganze Saison über auch im Theater Phönix in Linz. Dort wird "Die Orestie des Aischylos" in Szene gesetzt. Diese blutrünstigste aller Familiengeschichten muss seit jeher als Musterbeispiel für gelungenes dramaturgisches Storytelling herhalten. Von ihr haben sich Hollywood-Drehbuchautoren das so gut funktionierende Exposition-Konflikt-Lösung-Gerüst abgeschaut, das sich an ein paar mehr oder weniger vorhersehbaren Plot points aufhängt. Wem das jetzt alles zu theoretisch klingt, fährt am besten nach Linz. Die fast 2500 Jahre alte Story voller Heimtücke, Pathos und Rache ist zeitlos. Außerdem stellt sie die Ehebrecherin mit dem grausam-schönsten Namen der Theatergeschichte auf die Bühne: Klytaimnestra!

Szenenfoto Orestie, ermorderter König mit Blut auf der Brust

Christian Herzenberger

Aischylos’ Orestie als Action-Tragödie mit viel Kunstblut

Steiermark

Wem schon seine eigenen menschlichen Abgründe zu tief sind, kann im Rahmen des Steirischen Herbstes auf die stabile Rationalität künstlicher Intelligenz ausweichen. In "Hello Hi There", einer Produktion der New Yorker Regisseurin Annie Dorsen, führen zwei Chatbots, also Plauderroboter, ein in den 1970er Jahren geführtes Fernsehgespräch fort. Als Ausgangsmaterial dienen Gedanken und Satzkonstruktionen niemand Geringerer als Michel Foucault und Noam Chomsky, die das Gespräch führten.

Außerdem inszeniert das Theater im Bahnhof den "Tod eines Bankomatkartenbesitzers" mitten in einem Grazer Shopping Center, und lädt am 26. September gemeinsam mit Michael Ostrowski zu einem Sonntagsbrunch anlässlich der steirischen Landtagswahlen.

Salzburg

In den öffentlichen Raum, und das "Fast forward", begibt sich von 23. bis 26. September auch die ARGE Kultur Salzburg gemeinsam mit Choreograph Georg Hobmeier und der Schmiede Hallein. Via MP3-Player erhalten die KünstlerInnen Anweisungen, wie sie sich durch die Salzburger Innenstadt bewegen sollen. Wer in das Spiel eingeweiht ist, hat sicher einen Heidenspaß dabei, wenn die PerformerInnen ahnungslose TouristInnen und shoppende BummlerInnen aufscheuchen.

Handstand vor einem projizierten Stadtplan

ARGE Kultur Salzburg

Ein zweiter Teil, "[Fast forward] and its melancholic rewind" folgt im November.

Eine schöne Idee ist auch die "Einladung zur Abschiebung", die das österreichische Theaterkollektiv God's Entertainment in Hallein ausspricht. Am 25. September findet in einer feierlichen Zeremonie eine Erstabschiebung in den Iran statt, zwei Tage davor kann man sich schon mal die Formulare abholen.

Ansonsten scheinen die Salzburger Theater den direkten Kontakt zur schnöden Realität in dieser Saison zu verweigern. Sie verlieren sich stattdessen in literarischen Welten und setzen auf Romanadaptionen. Das Schauspielhaus Salzburg z.B. inszeniert Stanislav Lems "Solaris", das Odeion Salman Rushdies "Harun und das Meer der Geschichten", und das Kleine Theater zeigt Daniel Glattauers "Gut gegen Nordwind".

Burgenland

Die digitale Liebesgeschichte kommt auf der Bühne offensichtlich mindestens so gut an wie als Buch. Auch in den Kulturzentren Oberschützen und Eisenstadt (außerdem noch im Landestheater Linz) tippen die Emmis und Leos ihre kokett-schmächtigen Emails in ihre Tastaturen. Nur gut, dass diese Liebelei 2011 endlich ihre Fortsetzung finden wird. "Alle sieben Wellen" schwappen über Eisenstadt. Und von der bedingungslosen Liebe nicht genug, wird jene zwischen Johnny Cash und June Carter als Teil eines musikalischen Portraits des "Johnny Cash - The Man in black" inszeniert. Ebenfalls in Eisenstadt und Oberschützen.

Kärnten

Geschichten auf Deutsch, Russisch und Slowenisch erzählt das Kremlhof Theater in Villach. Bei dem polyglotten Horizont verwundert es nicht, dass die regionalen "Kärntner/INNEN-Ansichten" maximal in Form eines musikalisch-anarchischen Kabaretts auf die Bühne kommen, oder?

Außerdem gratuliert der Kremlhof dem russischen Dramatiker Anton Tschechow mit einer Plotmontage aus dessen Erzählwerk zu seinem 150. Geburtstag, und bringt gemeinsam mit dem Russischen ST/A/R-Theater Berlin die Heiligenlegende des russischen Dorfgeistlichen Protopopen Avvakum auf die Bühne. Der Mann hielt sieben Stunden lange Gottesdienste und seine Autobiographie von 1672/73 gilt als die erste russische Autobiographie überhaupt.

Tirol

Und wenn wir schon bei guten Taten sind: "Jeder rettet einen Afrikaner" heißt es ab 29. September im Innsbrucker Kellertheater. Jeder Theaterabend eine Benefizveranstaltung, jeder gespendete Euro ein Schritt in den Himmel. Wie passend, dass am Silvesterabend "Die Bibel - leicht gekürzt" nachgelegt wird.

Vorarlberg

Auf www.theaterspielplan.at könnt ihr die spannendsten Produktionen in eurer Nähe selbst suchen.

Schriften und Motive christlicher Doktrin zu dramatisieren, liegt überhaupt schwer im Trend. Nachdem das Wiener Schauspielhaus letztes Jahr die 10 Gebote inszeniert hat (und einen Teil dieser Serie wiederholt), zeigt das Bregenzer Kosmos Theater ab November "Die sieben Todsünden". Sieben AutorInnen, unter ihnen Michael Köhlmeier und Monika Helfer, widmen sich theatralisch Hochmut, Geiz, Genusssucht, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit.

Zur Einstimmung aufs Sündengelage darf Richard III, aka "Dirty Rich Modderfocker der Dritte" schon ab Oktober seine frei nach William Shakespeare gezogene Blutspur zur Krone Englands über die Bühne ziehen.