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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

28. 8. 2010 - 15:44

Die Angst der Blauäugigen

Aus der Stadt des Blutdusels zurück ins Land des Klassenwahns: Wie meine verängstigte Generation weltfremde Wesen züchtet.

Gestern Nacht sind wir heimgekehrt vom langen Urlaub in Wien. Auf die langsame Art, im Auto durch Deutschland und Frankreich, die den Übergang von der einen Welt in die andere ein bisschen sanfter macht. Allerdings war da noch dieser nagende Gedanke, den ich auch auf der monotonen Fahrt durch den Kanaltunnel nicht loswerden konnte.

Ich hatte mir zwar vorgenommen, den WienerInnen nichts von ihrem Leben zu erzählen, das sie selbst viel genauer kennen als ich Abtrünniger, der dort aus gutem Grund schon lang nicht mehr wählen darf.
Aber das heißt erstens nicht, dass ich dreieinhalb Wochen blind durch die Gegend gelaufen wäre, und zweitens kann eine Außenperspektive ja manchmal auch was hergeben.

Übersehen ließen sie sich nämlich nicht, die omnipräsenten Plakate der sich als Volksabstimmungsplattform für ihren Spitzenkandidaten gerierenden Wiener FPÖ (Für all die, die nicht in Wien wohnen und die dortige Aufregung der letzten Wochen übersehen haben könnten: Neben einem Porträt eines gewissen strahlend blauäugigen Mannes steht da auf jenem Plakat: „Mehr Mut für unser Wiener Blut – Zu viel Fremdes tut niemandem gut“. Für alle, die das schon für einen alten Hut halten: Eben, das ist ja das Problem.)

Das Ja-Sagen und das Schweigen

So rein biologistisch argumentiert versteh ich das übrigens nicht, schließlich hab ich wo gelesen, dass wir uns alle mit der Nase instinktiv Partner suchen, die nach möglichst unterschiedlichen Erbanlagen riechen. Zwecks Blutdurchmischung zur Vermeidung der in isolierten Gemeinschaften zu kollektivem Stumpfsinn führenden Inzucht.

Trotz Jahrtausenden der genetischen Auffrischung ist die Wiener Bevölkerung ja so schon nicht immer die geistig Frischeste, nicht zuletzt, wo voriges Jahrhundert infolge einer anderen Volksabstimmung, bei der das „Ja“-Wählen gefordert war, der Gen-Pool auf mörderische Weise empfindlich reduziert wurde.

Was ich nun in diesen grauen Seiten zu diesem Anlass in der geschätzten Kollegin Veronika Weidingers Gespräch mit Blausprech-Autor Benedikt Narodoslawsky lesen konnte, stieß mir als von außen in die Diskussion Gestolpertem ziemlich unangenehm auf. Nämlich, ich zitiere:
“Das Beste, was denen (der FPÖ) passieren kann, ist, wenn sich noch mehr Leute aufregen. Der Falter hat etwas sehr Kluges geschrieben: Worüber Wien schweigen sollte. Und sie haben gesagt: ja, genau über dieses Plakat. Damit könnte man der FPÖ am meisten wehtun.“

Das klang erstens allzu sehr nach einer Anleitung zum Wegschauen, welches als politische Strategie im Verlauf der Weltgeschichte noch nie was weitergebracht hat. Schweigen, während andere Ja sagen, kann im Gegenteil sehr gefährlich werden.

Zweitens ignoriert diese Strategie auch die andere wichtige Funktion solcher Slogans, nämlich das Verschieben der Normen in der politischen Kultur. Jede geduldete Parole, die an rassistische Instinkte appelliert, bildet einen Präzedenzfall. Was einmal schon nicht weggeschwiegen werden konnte, darf beim zweiten Mal schon gar nicht mehr aufregen. Auch wenn es sollte.

Und es geht sich drittens auch für die von Narodoslawsky angesprochenen, angeblichen 75 Prozent, rein politisch nicht mehr aus, einfach nur selbstgerecht, wie er es formuliert, „das ist eine Schweinerei“ ins eigene Fäustchen zu sagen. Was mir nämlich neben den Plakaten ins Auge fiel, war ein erklärendes Zeitungsinserat der Ja-Fraktion, wo unter der einleitenden Frage „Was meinen wir mit Zu viel Fremdes tut niemandem gut?“ gleich als erstes stand: „Zu viel ist, wenn von 30 Kindern in einer Volksschulklasse nur mehr 3 Deutsch können.“

Willkommen in der Zielgruppe des Rechtspopulismus

Da reichte es nicht mehr, mir die Welt der Ja-WählerInnen als eine der anderen 25 Prozent auszumalen. Von der vielzitierten „Schule im 15. Bezirk“, an die man seine Kinder lieber nicht schicken würde, hatte ich nämlich schon aus den Kreisen meiner eigenen Wiener Bekanntschaften reichlich gehört und gelesen – alles freilich rein pragmatisch argumentiert, weil es Eltern ja nur um die Kinder geht, deren Wohlergehen gegebenenfalls schwerer wiegt als das politische Gewissen.

Ein „Dilemma“, wie es mein in seinem musikalischen und sonstigen Leben aktiv antirassistischer alter Freund Wolfgang Schlögl unlängst in seinem vieldiskutierten Interview mit dem Standard nannte.

Schild: Kew College: unlocking the potential of 3 to 11 year-olds

Robert Rotifer

Neulich auf dem Weg nach Kew Gardens gesehen: Für die Neurosen von morgen ist schon gesorgt.

Aber vielleicht ist jener innere Konflikt, der liberale Kinderkrieger dazu bringt, sich selbst beim Diskriminieren zu ertappen, ja keineswegs ein Dilemma, sondern eine potenziell produktive Erfahrung. Zumal diese Leute, die nicht zur natürlichen Zielgruppe des Mannes mit den strahlend blauen Augen gehören, in anderen Lebenslagen nicht jene Ängste der ModernisierungsverliererInnen spüren, die der Rechtspopulismus mit seinen falschen Antworten so gerne anspricht.

In meiner anderen Welt hier drüben in Großbritannien hab ich sie ja auch schon wo gehört, genau dieselben Argumente. Bloß ging es da nicht um die Angst vor MitschülerInnen, die dem Spross mehrheitlich in fremder Zunge begegnen könnten. Das ist in London kein Thema, zumal es da sowieso völlig unmöglich wäre, sich ausschließlich unter Eingeborenen aufzuhalten.

Im Großbritannien der verschärften sozialen Gegensätze geht es dagegen primär um Klassenvorurteile und die Angst, im direkten Umgang der eigenen Kinder mit der Brut des Pöbels die akademische Überlegenheit der Middle Class zu riskieren.

Klingt nach ekelhaftem Sozialdarwinismus? Allerdings. Wird aber von Seiten der Eltern genauso pragmatisch rationalisiert wie die Xenophobie in Österreich.

Die Zucht der weltfremden Wesen

In beiden Fällen ist das wahrgenommene Problem natürlich eine klassische self-fulfilling prophecy.
Meinem analog genauso auf die „Ausländer-Ghetto-Schule“ anwendbaren Argument, dass sich alles schlagartig ändern würde, wenn das Bildungsbürgertum – anstatt sich teure Privatschulen zu leisten, die es sich gar nicht leisten kann – geschlossen die als „sink school“ (Abwasch-Schule, ein schönes Wort) gefürchtete, nächstgelegene Schule besuchen würde, entgegnete eine Londoner Bekannte: „Kann schon sein, aber ich werde meine Kinder sicher nicht als Versuchsobjekte eines sozialen Experiments missbrauchen.“

Dabei tut sie ja genau das.

Anders lässt sich der Versuch, ihre Leibesfrucht jedem Kontakt mit dem Andersartigen zu entziehen, schließlich nicht beschreiben.

In ihrer Überzeugung, dass zu viel Fremdes niemandem gut tut, übt sich die gesamte Londoner Middle Class in der Erschaffung einer artifiziellen Welt, in der ihre Kinder sich ausschließlich unter ihresgleichen bewegen. Im Familienpanzer werden sie täglich zwischen Eigenheim und Mittelklassereservat hin- und herchauffiert, um jede Kontamination von außen zu vermeiden. Und wer noch mehr Geld hat, sperrt sie überhaupt gleich weg, draußen am Land im Privatinternat.

Hinter dieser Paranoia, die eine Generation weltfremder Wesen erzeugt, steckt in Wien wie in London dieselbe Projektion der eigenen Statusangst auf die eigenen Kinder, die in der richtigen Schule die richtige Leistung bringen sollen, um uns durchfüttern zu können, wenn wir dereinst keine Jobs und keine Pension mehr kriegen sollten.

Mit der Verhärtung und Prekarisierung der Gesellschaft wird diese Angst stetig größer. Aus meiner eigenen Kindheit kann ich mich jedenfalls nicht an den enormen sozialen Druck erinnern, der dieser Tage auf die Schulkinder abgewälzt wird.

Aber hier soll es nicht einmal drum gehen, wie meine Generation in der Elternrolle die unlockerste seit den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts werden konnte, auch wenn wir uns das nie im Leben so ausgemalt hätten, damals vor 10 bis 20 bis 30 Jahren.
Oder wie der fatale Irrtum, sich in Zeiten, wo es eng wird, dem individualistischen Konkurrenzkampf zu verschreiben, immer wieder die Oberhand behält.
Sondern darum, wie es kommt, dass just das, was man glaubt, für sich selbst – oder die eigenen Kinder – zu tun, am Ende nur dem Mann mit den strahlend blauen Augen und den holpernden Reimen in die Hände spielt. Schon überhaupt, wenn man dazu – in Wahrheit vor peinlicher Berührtheit - auch noch schweigt.