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Simon Welebil

Abenteuer im Kopf, drinnen, draußen und im Netz

16. 8. 2010 - 19:21

WikiLeaks schafft's nicht alleine

Die "Whistleblower-Website" musste im letzten Halbjahr ihre Strategie wechseln.

Open Mike:
FM Workstation

  • Mehr zum Thema Wikileaks gibt es am Mittwoch, 18. August ab Mitternacht in einem Open Mike.

Die Sendung entstand im Rahmen der FM4 Workstation, dem Sommerausbildungs-
programm von FM4.

Pentagon warnt Wikileaks! vor der Veröffentlichung weiterer Dokumente und will seine geleakten Dokumente zurück. Scharfe Kritik von Amnesty an WikiLeaks! wegen der Veröffentlichung von Namen afghanischer Zivilisten. WikiLeaks wehrt sich! gegen unberechtigte Kritik!

Seit der Veröffentlichung von mehr als 70.000 Geheimdokumenten aus dem Afghanistankrieg ist WikiLeaks nicht mehr aus den Schlagzeilen und Nachrichtensendungen zu verdrängen. Die Organisation, die es InformantInnen seit 2006 ermöglicht, anonym Geheimdokumente zu veröffentlichen, ist schlagartig berühmt geworden.

Das wirft die Frage auf, wieso WikiLeaks erst heuer der große Durchbruch gelungen ist? Noch vor einem halben Jahr kannte kaum jemand die Organisation, obwohl ihre Enthüllungen damals nicht weniger brisant waren.

wikileaks logo, ein stundenglas eua dem eine weltkugel in eine andere tropft

wikileaks

  • 2007 veröffentlichte WikiLeaks die Richtlinien der U.S. Army für das Gefangenenlager auf Guantanamo-Bay und belegte damit die Verletzung der Genfer Konvention und der Menschenrechte der Inhaftierten, wie es schon lange vermutet wurde.
  • 2008 wurden Dokumente der „Scientology-Kirche“ publiziert, aus denen hervorging, dass sich Scientology einen „Geheimdienst“ hält, der verdeckte Operationen gegen „Ungläubige“ und „Abtrünnige“ durchführt.
  • 2009 war Island nach dem Zusammenbruch seines Bankensystems im Fokus von WikiLeaks. Die Organisation wies nach, dass die Kauphting Bank, eine der größten isländischen Banken, kurz vor ihrem Bankrott und der darauffolgenden Verstaatlichung, von ihren Eigentümern geplündert wurde.

Nur die wenigsten Daten, die über WikiLeaks durchgesickert sind, haben die breite Öffentlichkeit erreicht, weil sie von den klassischen Medien nicht in ihre Berichterstattung aufgenommen wurden. Zeitungen und Radiostationen haben die Dokumente trotz ihres Potentials nicht aufgegriffen.

Anfang 2010 musste der Betrieb von WikiLeaks wegen Finanzproblemen sogar für einige Zeit eingestellt werden

WikiLeaks konnte sich in zweifacher Hinsicht nicht mit dieser Situation zufrieden geben. Erstens, weil die Organisation mit jeder ihrer Veröffentlichungen die größtmögliche Wirkung erzielen will. Und zweitens, weil WikiLeaks Aufmerksamkeit braucht, um die Spenden zu lukrieren, durch die sie sich finanziert.

Mit Exklusivstories zu mehr Verbreitung

WikiLeaks will, dass die Welt vom Inhalt ihrer Veröffentlichungen erfährt, hat aber die ökonomischen Grundsätze der Publizistik unterschätzt, vor allem in Bezug auf Datenjournalismus, der Aufbereitung einer großen Menge von Daten für die Öffentlichkeit. WikiLeaks-Sprecher Julian Assange musste erkennen, dass kein Medium ohne Exklusivrechte
Wochen an Arbeitszeit dafür investieren würde, sich durch Datenberge zu wühlen, wenn am Ende ein Konkurrenzunternehmen zwei Tage vorher mit der Story rauskäme und die ganze Arbeit zu Nichte mache.

WikiLeaks Sprecher Julian Assange hält eine Ausgabe des Guardian in Händen

epa - stringer

Wikileaks-Sprecher Julian Assange

Diese Einsicht hat WikiLeaks zu einem Strategiewechsel bewogen. Die Organisation hat aufgehört, nur Daten auf ihrer Website zu veröffentlichen und darauf zu hoffen, dass jemand zugreift. WikiLeaks sucht sich jetzt gezielt Medienpartner aus. Bei der Veröffentlichung der Dokumente aus dem Afghanistan Krieg waren das die New York Times, der Guardian und der Spiegel. Drei renommierte Zeitschriften, die bekannt für Aufdeckerjournalismus sind, drei Zeitungen aus Staaten, die Truppen in Afghanistan stationiert haben, den USA, dem Vereinigten Königreich und Deutschland.
Die Dokumente wurden den Zeitungen vorab und exklusiv zur Verfügung gestellt, mit der Auflage, sie zum selben Datum wie WikiLeaks zu veröffentlichen. Dadurch sollte die größtmögliche Aufmerksamkeit gewährt werden.

Ist der Ruf erst ruiniert...

Neben der Aufmerksamkeit wirkte sich die Kooperation mit den drei Medien aber auch positiv auf die Glaubwürdigkeit der Dokumente und von WikiLeaks selbst aus. Denn ausgerechnet durch den bisher größten publizistischen Erfolg der Organisation, der Veröffentlichung eines Videos aus dem Irak-Krieg im April, wurde ihre Glaubwürdigkeit angezweifelt.

Das Video zeigt, wie amerikanische Soldaten aus einem Hubschrauber heraus elf Zivilisten erschießen, unter ihnen zwei Korrespondenten der Nachrichtenagentur Reuters. WikiLeaks hat das Video aber nicht nur online gestellt, sondern es auch bearbeitet. Das ursprünglich 39-minütige Video wurde zu einer 17-minütigen Highlight-Version zusammengeschnitten, das von einem tendenziösen Zitat George Orwells eingeleitet wird: "Political language is designed to make lies sound truthful and murder respectable and to give an appearance of solidity to pure wind." Tendenziös ist auch der Titel, der dem Video gegeben wurde: "Collateral murder".
WikiLeaks hat erstmals nicht nur Material zur Verfügung gestellt, sondern es auch interpretiert, was der Organisation den Vorwurf der "emotionalen Manipulation" eingebracht hat. Mit dem Zusammenschnitt des Videos wollte WikiLeaks mehr Aufmerksamkeit bekommen, musste dafür aber mit einem beschädigen Ruf bezahlen.

...lebt es sich recht ungeniert?

Eine Organisation, der Geheimnisse anvertraut werden, kann sich den Verlust von Glaubwürdigkeit nicht leisten, weder finanziell, noch in Bezug auf ihre InformantInnen.

Mit der Veröffentlichung der Daten aus dem Afghanistankrieg ist WikiLeaks wieder einen Schritt zurück gegangen: Die Organisation konzentriert sich auf ihre Kernkompetenzen, die die Plattform für „Whistleblower“ so attraktiv macht: den Schutz von InformantInnen, die Möglichkeit anonymer Datenübertragung und deren Veröffentlichung.
Die Interpretation der Daten, ihre Einbettung in einen Kontext und die Entwicklung von Geschichten wird den klassischen Medien überlassen, die darin mehr Erfahrung haben und auch mehr öffentlichen Druck auf die zuständigen Stellen aufbauen können. WikiLeaks nutzt deren Glaubwürdigkeit für ihre Sache und beide Seiten profitieren: die Medien durch Stories und WikiLeaks durch die breitenwirksame Aufbereitung ihrer Dokumente.