Erstellt am: 27. 8. 2010 - 17:11 Uhr
Die Demokratie von morgen

Vedran Dzihic
Der Politologe Vedran Dzihic ist Senior Researcher an der Universität Wien. Er ist Direktor des Center for European Integration Studies (Wien, Genf, Sarajevo). Dzihic beschäftigt sich insbesondere mit Demokratisierung und Transformation in Südosteuropa, Europäischer Integration, Nationalismus und Postkriegsentwicklungen.
Diesen Sommer macht das FM4 Jugendzimmer vier Mal Platz für Visionen für die Zukunft der Bildung, der Wirtschaft, der Natur und der Demokratie. Der Politikwissenschafter Vedran Dzihic skizziert am 27.8. ab 19 Uhr im FM4 Jugendzimmer seine Zukunftsszenarien zur Demokratie.
Manche finden, dass die Demokratie eine Krise durchlebt: Immer weniger Menschen gehen zu Wahlen und geben ihre Stimme ab, das Vertrauen in PolitikerInnen, dass sie etwas Gutes für uns tun, sinkt. Vedran Dzihic relativiert: erstens seien Demokratien seit ihrem Bestehen immer wieder in Krisen gewesen und hätten sich dadurch neu generiert und zweitens stimmt dieser Befund nur teilweise. Im Obama-Wahlkampf wurden Junge, Schwarze und Randgruppen enorm zur demokratischen Teilnahme mobilisiert: Das habe der Demokratie wohl nicht nur in den USA einen neuen Aufschwung gegeben.
Eine europäische Demokratie für 2030
Wie könnte eine europäische Demokratie in 20 Jahren aussehen? Vor allem in Europa: schließlich bilden wir gemeinsam einen großen Wirtschaftsblock, haben aber nicht die eine große starke europäische Demokratie - die EU ist nach wie vor ein Bund demokratischer Staaten mit oftmals nationalen Egoismen.
Für eine europäische Demokratie müsste, so Dzihic, der Entwicklungsweg der EU, wie er erfolgt ist, einfach weiter beschritten werden. Immer mehr Bereiche wie Außenpolitik oder Migration werden sukzessive von nationaler zur EU-Kompetenz. Das europäische Parlament als das Spiegelbild Europas braucht laut Dzihic noch mehr Rechte - intransparente Entscheidungsfindungen bei EU-Gipfeln haben da keinen Platz.
Jugendzimmer-Spezial-Sommerreihe:
"Vier mal nach vorne geschaut. Ein Blick auf die Welt, wie es sie noch nicht gibt"
- 30.7. Elisabeth Scharang im Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Karl Heinz Gruber
- 6.8. Claus Pirschner diskutiert mit dem Ökologen und Naturschützer Ulrich Eichelmann über die Umwelt im Jahr 2030
- 13.8. Elisabeth Scharang im Gespräch mit dem Wirtschaftsforscher Stefan Schulmeister.
- 27.8. Claus Pirschner befragt den Politikwissenschafter Vedran Dzihic über Demokratie und Demokratieverständnis in Europa in zwanzig Jahren
jeweils Freitag von 19 bis 20.30 Uhr
(Wieder-)Aufbau der Mittelschicht, Trägerin der Demokratie
In einer positiven Vision von Demokratie kann es sich für Dzihic nur um eine soziale Demokratie handeln, die die erwirtschafteten Ressourcen gerechter als heute verteilt. Die Umverteilung sei für die Demokratie selbst lebenswichtig, damit die Kluft zwischen Armen und Reichen nicht ständig größer wird und die Mittelschicht gestärkt bzw. in manchen südosteuropäischen Staaten überhaupt geschaffen wird: "Denn dass die Mittelschicht immer Träger des demokratischen Gedankens war, wissen wir aus der Geschichte". In einer europäischen Demokratie sollten auch südosteuropäische Staaten wie Serbien, Kroatien, Bosnien, der Kosovo etc. integriert sein.
"Wir brauchen einen europäischen Demos"
Dzihic stellt fest, dass viele heute von demokratischen Wahlen ausgeschlossen sind: einst waren das Frauen und niedrigere Klassen, heute sind es vor allem MigrantInnen. In Großstädten darf also locker jeder zehnte nicht wählen gehen. Wie geht die Demokratie von morgen damit um, wenn Menschen immer mobiler werden - gezwungenerweise aus der Not, aus beruflichen Gründen oder auch freiwillig aus Interesse? Das ist für den Politologen Dzihic, der selbst als 17-Jähriger mit seiner Familie vom Krieg in Bosnien nach Österreich geflüchtet ist, eine klare Sache: "Man müsste einen europäischen Demos schaffen. Das europäische Volk müsste im Gegensatz zu heute nicht restriktiv sondern inklusiver sein. Es sollte all jene beinhalten, die sich in diesem großen Rahmen Europa bewegen, hier arbeiten, hier ihre Kinder in die Schule schicken. Das würde bedeuten, dass man die großen Massen der Ausgeklammerten, die ausgeschlossenen Migranten intensiver miteinbezieht. Das ist eine Vision, für die es sich zu kämpfen lohnt".
Wenn das nicht kommt - derzeit dürfen MigrantInnen national nur mit der erworbenen StaatsbürgerInnenschaft zur Wahlurne gehen, dann "wäre das ein Schreckensszenario, weil Migration die meisten europäischen Gesellschaften heute schon bestimmt. Sie sind Einwanderungsgesellschaften, auch wenn das die Politik, auch in Österreich, nicht gerne zugibt." Wenn man laut Dzihic vor diesem Problem die Augen verschließt, hat man in 20 Jahren eine "defekte Demokratie", also nur für eine Gruppe von Menschen, die national dazu gehören. So ein Zustand schafft eine große Masse von unzufriedenen Ausgeschlossenen, die ständig Konfliktpotenzial produzieren, befürchtet der Politologe. Die Ausgeschlossenen wären besonders bereit, sich fundamentalistischen Ideologien oder Bewegungen anzuschließen und damit die Demokratie selbst zu gefährden.

Flickr/Suzanne Long
Entschleunigung
In der Demokratie von morgen sieht der Politologe Vedran Dzihic BürgerInnen, die sich viel mehr abseits der fünfjährigen Stimmabgabe an Entscheidungen beteiligen. Zu lokalen Fragen aus ihrer Umgebung, zu Umweltfragen, Bildung und vielem mehr werden sie über Bürgerversammlungen, zivilgesellschaftliche Organisationen‚ runde Tische und Abstimmungen bei Entscheidungen beteiligt sein. Ja, aber wer hat dazu schon die Zeit? Dzihic besteht darauf: "Das braucht viel Zeit und das haben Bürger heute kaum. Die Herrschaftsform Demokratie braucht Geduld. Das ist das große Dilemma.Wann kann man noch innehalten und nachdenken über das, was uns betrifft, ohne nur Trends nachzulaufen und zu konsumieren?" Die Demokratie von morgen braucht also Entschleunigung. Nicht noch schneller und noch effizienter, sondern mit gedrosselter Geschwindigkeit in Wirtschaft, Freizeit, im gesellschaftlichen Leben. Daran führt kein Weg vorbei.
Das Gespräch zum Nachhören:
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- Buchtipp
Vedran Dzihic: Ethnopolitik in Bosnien-Herzegowina. Staat und Gesellschaft in der Krise. Erschienen 2010 im Nomos Verlag.
Lehrstück Kosovo als Warnung
Der jüngste demokratische Staat in Europa ist der Kosovo. Vor zweieinhalb Jahren wurde er - vom Westen unterstützt - ausgerufen. Es ist wohl das intensivste Projekt der EU, dort demokratische Verhältnisse herzustellen. Die europäische Union ist vor Ort mit dem Auftrag, Polizei, Justiz und Zoll mit aufzubauen. Vedran Dzihic hat die EU Mission im Kosovo, genannt EULEX, im Rahmen einer Studie unter die Lupe genommen.
Wie steht es um die jüngste Demokratie Europas? Inwieweit ist die Entwicklung dort auschlaggebend für eine mögliche gemeinsame europäische Demokratie in der Zukunft? Dzihic spricht von von einer tickenden Zeitbombe. Im Kosovo mache die Europäische Union genau das Gegenteil von Dzihics Vision einer erneuerten Demokratie in 20 Jahren: "Demokratie kann man nicht von außen hineinpflanzen, sondern nur durch Empowerment, durch Ermächtigung der Menschen vor Ort. Das hat die EU bislang nicht gemacht."
Dzihic findet,dass sich die Union im Kosovo wie ein selbstherrlicher demokratieverstehender und -lebender Herrscher aufspielt. Die Europäische Union "kommt wie in einem Space Shuttle an den Rand Europas und wir sagen euch, wie es sein muss". Wenn aber die Europäische Union als Role Model selbst mit Korruption zu kämpfen hat und teilweise nicht demokratisch agiert, intransparent entscheidet, Versprochenes vor Ort nicht umsetzt, dann wird es laut Dzihic schwer, denen aus dem Space Shuttle Glauben zu schenken. Das Vorgehen europäischer Vertreter im Kosovo zeigt ihm besonders deutlich: Hier wird Demokratie mit technokratischen und bürokratischen Spielen verwechselt. Das wahre Moment der Demokratie aber liege gemäß Hannah Arendt nicht in der Politik selbst, denn "der Sinn der Politik ist die Freiheit. Die Politik ist für Menschen da. Und das ist in weiten Teilen in Europa nicht der Fall."
Dzihic versteht seine Arbeit für mehr Demokratie wie Politik selbst als geduldiges, beharrliches Bohren von harten Brettern. Ohne eine Garantie dafür abzugeben, ob wir in 20 Jahren überhaupt noch in einer Demokratie leben werden, ist es für ihn die beste unter nicht optimalen Herrschaftsformen.
Dzihic' Voraussage: Entweder passiert bis 2030 eine weitere Abkehr von dieser Staatsform und eine "defekte Demokratie" hält Einzug, oder wir kommen einer Europademokratie ein Stück näher.