Erstellt am: 15. 7. 2010 - 09:25 Uhr
The Legend
Grundsätzlich bin ich ja vehement gegen journalistische oder sonstige Analysen von Volksseelen, zumal es letztere genauso wenig gibt wie Volkskörper, Volksempfinden oder Volksschuhgrößen.
Im folgenden gefällte Behauptungen über „die Briten“ sind somit im Bewusstsein dieser Tatsache als Statement über den Zustand einer Gesellschaft zu verstehen, auf keinen Fall mag ich hier nämlich ein Gegenstück zu all den damaligen britischen Analysen der österreichischen Seele anhand des Falles Fritzl abliefern.
Trotzdem lässt sich aus der sinnlosen Tragödie rund um Raoul Moat und seine Opfer schon einiges über dieses Land ablesen.
Falls es sich nicht bis zu euch herumgesprochen haben sollte: Im Nordosten Englands hat sich vergangene Woche ein Outlaw-Drama sondergleichen zugetragen.
Ein 37-jähriger Nachtclub-Türsteher namens Raoul Moat, Steroid-gefütterter Muskelberg und gut vernetztes Faktotum der Schattenwelten von Newcastle und Umgebung, wird nach Abbüßen einer Haftstrafe wegen Körperverletzung aus dem Gefängnis entlassen.

Robert Rotifer
Mittels Facebook lässt er seine FreundInnen wissen, dass er alles verloren habe, weil seine Freundin (bzw. Mutter seiner Tochter) mit einem Polizisten (in Wahrheit ein Karatelehrer) fremdgegangen sei. Zwei Tage später erschießt er jenen Lebensgefährten seiner Ex-Freundin vor deren Haus, dann verletzt er mit zwei Schüssen durchs Fenster die Ex-Freundin selbst.
Gazza, ein Bier, das Huhn und die Angelrute
In der folgenden Nacht kündigt er beim Polizei-Notruf an, dass er ab nun Polizisten jagen werde. 12 Minuten später geht er an einem Kreisverkehr auf ein Polizeiauto zu und schießt ins Gesicht des Fahrers (der erblindet überlebt).
Am Montag verübt in der Kleinstadt Seaton Delaval ein Mann mit Moats Beschreibung einen bewaffneten Raubüberfall. Tags darauf taucht ein Brief auf, in dem Moat erklärt, dass er nicht aufhören wird, Polizisten zu erschießen, bis er tot ist.

Robert Rotifer
In Rothbury, Northumberland, kommt es zu einer Geiselnahme, die vermeintlichen Geiseln stellen sich im Nachhinein allerdings als Moats Verbündete heraus. Die Polizei findet Moats Unterschlupf am Rand einer Weide und umzingelt ihn. Moat bedroht sich selbst mit der Waffe, um die Polizisten von sich fern zu halten.
Der dem Alkohol verfallene Ex-Fußballer Paul Gascoigne taucht in Rothbury auf, um mit seinem „guten Freund“ Moat Kontakt aufzunehmen. Einem Radiosender erklärt er, dass Moat ein wahrer Gentleman sei. Offenbar habe er auf Leute geschossen und jemanden umgebracht, und das sei „not nice, really.“ Er müsse wohl auf Drogen gewesen sein, meint Gascoigne.
Moat sei dennoch ein „lovely bloke“. Er, Gascoigne, habe ihm eine Dose Bier, einen Schlafrock, eine dicke Jacke, Brot, etwas Brathuhn, eine Angelrute, ein Mobiltelefon und eine Decke zum Wärmen mitgebracht. Er wolle sich mit ihm an den Fluss setzen, ihm „ein bisschen Therapie geben und sagen: Komm schon, Moaty, Gazza ist hier.“
Aber daraus wird nichts mehr. Nach stundenlangen Verhandlungen feuert die Polizei mit Elektroschockpistolen auf Moat, der daraufhin den Abzug drückt.

Robert Rotifer
Der Bösewicht als Facebook-Held
In der Zwischenzeit haben Menschen, die ihn kannten und viele mehr, die ihn nicht bzw. nur von der medialen Berichterstattung her kannten, am Schauplatz seines Todes und vor seinem Haus Blumen niedergelegt. Auf Facebook haben sich allerhand Gruppen als Tribut an Raoul Moat gebildet, auf deren Seiten der Mörder von Zigtausenden UserInnen als Volksheld gefeiert, seine Ex-Freundin („die kleine Hure“) und die Polizei („pigs“) der Verschwörung gegen Moat beschuldigt und mit Rache bedroht werden.
Wer sich ernsthaft vor der Menschheit gruseln und Depressionen riskieren will, kann dem gerne selbst nachgooglen. Was da an gewaltverherrlichenden Auswürfen zu lesen ist, kann einem allerdings das unbesorgte Gehen auf britischen Straßen abgewöhnen.
Die Regierung hat sich bereits bei Facebook darüber beschwert, dass auf seinen Seiten offene Aufrufe zum Polizistenmord zugelassen werden.
Premierminister Cameron zeigte sich im Parlament über jegliche Sympathien für einen kaltblütigen Mörder empört.
Im Radio erklärt ein Psychologe die neue Qualität des Internet als Verstärker abwegigen Sentiments.
Dick Turpin, die Krays, John Bindon vs. Adam Ant, Mick Jagger und Morrissey - der britische Outlaw als Popstar
Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass hinter all der Entrüstung ein ungesundes Maß an Selbstbetrug steckt.

Robert Rotifer
In den heruntergekommenen Sozialbausiedlungen dieses Landes brodelt ein roher Hass auf die Staatsgewalt, den ich schon ein paar Mal in Aktion erlebt habe - und das in einer sozial durchmischten Gegend Londons, bei weitem keinem der vielen abgeschotteten Ghettos dieses Landes (ich gebrauche das G-Wort hier nicht leichtfertig):
Gewalttaten, die ungelöst bleiben, weil alle, die mit der Polizei sprechen, den allgemeinen Ehrenkodex brechen und damit selbst ihre Haut riskieren würden. Verhaftungen, bei denen sich spontane Rudel Protestierender bilden, die die Exekutive mit lautstarken Mutterflüchen und ihre Autodächer mit Faustschlägen bedecken. Mit fasziniertem Tonfall weitergegebene Geschichten über kriminelle Familien und Banden, die das Territorium seit Generationen beherrschen.
In England und Wales (Stand 2009) sitzt gerade ein durchschnittlicher Anteil von 153 pro 100.000 Menschen eine Haftstrafe ab. Ein Anteil, der sich in den letzten 25 Jahren dank der populistischen Politik verdoppelt hat.
Keine Frage, aus welcher Gesellschaftsschicht die überwiegende Mehrheit davon kommt.
In einer Umgebung, wo jedeR jemand kennt, der/die schon einmal eingesessen ist, wird Gefängnis zum Alltag und irgendwann Kriminalität zum Kulturgut. Harte Männer, die den Bullen trotzen und einander gegenseitig foltern und umbringen, werden zu Popstars. Man braucht sich nur die „True Crime“-Abteilung jeder gewöhnlichen britischen Buchhandlung anzusehen. Ich kenne dazu kein kontinentales Äquivalent.
Die Glorifizierung des britischen Gangsters als Anti-Held ist einerseits nichts Neues, vom in der historischen Wahrheit alles andere als liebenswerten Highwayman/Gentleman Dick Turpin im 18. Jahrhundert (der im Achtziger-Pop als Adam Ant wiederkehrte) bis zum Kult um die Kray Brothers bzw. den abenteuerlichen Verknüpfungen zwischen Popszene, Aristokratie und Unterwelt in den Sechziger Jahren, perfekt personifiziert in der Gestalt des John Bindon, der im Film „Performance“ neben Mick Jagger den Gangster spielte, der er tatsächlich war, und später sowohl ein mutmaßliches Techtelmechtel mit Princess Margaret hatte als auch mit Led Zeppelin auf Tour ging und in „Quadrophenia“ einen Drogendealer verkörperte.
Leute wie die Krays, Bindon und Charlie Richardson (die übrigens allesamt - als Songfiguren oder als Plattencoverhelden - im Werk von Morrissey verewigt sind) bezogen ihren Status allerdings daraus, dass sie es mit kriminellen Mitteln zu sozialer und finanzieller Macht gebracht hatten. Das machte sie zu – wenngleich charakterlich mehr als dubiosen – Rebellen wider das Establishment, das seine korrupten Geschäfte unter Deckung der Justiz abwickelt, während ehrliche Verbrecher vermeintlich diese Heuchelei unterwandern.
Raoul Moat hat damit wenig zu tun. Seine Legende entspricht viel eher dem eigentlich amerikanischen, 1971 im Michael Caine-Film Get Carter von London nach (ausgerechnet) Newcastle importierten Outlaw, der das Recht in die eigene Hand nimmt.
Jener Film fing (in gewisser Hinsicht als englisches Gegenstück zu Taxi Driver) das auf desillusionierten, individualistischen Überlebenskampf gepolte Zeitgefühl einer nach dem Ende eines substanzlosen Booms in eine lange moralische und ökonomische Krise gekippten, bedrohlichen Gesellschaft ein.
Die Siebziger sollten in Großbritannien eine dementsprechend brutale Zeit werden, vom Bloody Sunday, den Energie- und Währungskrisen bis zu den Arbeitskämpfen, die schließlich in die Thatcher-Ära mündeten. Die derzeitigen Aussichten, nach der Verlautbarung der größten Budgetkürzungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund einer ausschließlich durch staatlich finanzierte Projekte mit Ach und Krach aus der Rezession gehievten Wirtschaft, sind ähnlich düster.
Jener in der Folklore bereits zum "sanften Riesen" geschönte, vom System und dessen niederen Lakaien gejagte Raoul Moat, den seine VerehrerInnen eine „Legende“ nennen (ohne zu wissen, wie recht sie damit haben), ist genauso eine Fiktion wie einst Jack Carter. Aber der finstere Zeitgeist, für den er steht, ist sehr real.