Erstellt am: 5. 7. 2010 - 15:29 Uhr
Der Missionar
Fotos: Wolfgang Gonaus/JazzFest Wien
Mehrheitsösterreich ist, dank großteils katholischer Sozialisation, auch 2010 noch ein bisschen diesseits-feindlich: Nur ja nicht auffallen, ja nicht laut sein oder gar zu offensichtlich eine zu gute Zeit haben ist die Devise. Das zeigte sich gestern abend, als eine Logennachbarin angesichts verhaltener Begeisterungsbekundungen in einem ruhigen Konzert-Moment ein wohl opernüblich zischendes "Ssssschhhh!" in unsere Richtung schleuderte.

JazzFest Wien/Wolfgang Gonaus
Dabei war der Mann, wegen dem wir alle dort saßen, doch gekommen, um uns vom Gegenteil zu überzeugen bzw. uns dazu zu bekehren. Al Green, in seiner langjährigen Homebase Memphis seit 34 Jahren Pastor des Full Gospel Tabernacle, hat nämlich auch in seinem Hauptberuf als legendärer Soulsänger eine Botschaft zu verkünden. Nur, dass diese von irdischeren Dingen wie Liebe, Leidenschaft und Lebensfreude kündet.
Von der ersten Sekunde an war klar: Ein Konzert, bei dem biedere Nachlassverwaltung betrieben und alte Hits abgespult werden, interessiert Al Green keinen Deut. Sichtlich beeindruckt von der historischen Location bekam der Reverend während der ersten paar Songs das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht - und es sollte auch später immer wieder kommen. Die Freude am Performen war dem 64-jährigen anzusehen, sein Alter nicht immer. Da wurde der Songtitel "Lay It Down" mit einem theatralischen Sturz versinnbildlicht, anderenorts sprang Mr. Green über die Monitorboxen von den Bühne in den Zuschauerraum. Als ziemlich früh der große Hit "Let's Stay Together" ertönte, mussten auch die Damen und Herren auf den guten Sitzplätzen wohl oder übel aufspringen - das erste von vielen Malen an diesem Abend.

JazzFest Wien/Wolfgang Gonaus
Mit "Simply Beautiful", "I'm Still In Love With You" oder "How Can You Mend A Broken Heart" gab es danach Einblicke in das ruhigere Oevre eines Mannes, der nicht unbedingt Mikrofone brauche, um sich Gehör zu verschaffen. Dank seiner Kirchenerfahrung hatte der Reverend das Publikum mit Call & Response und launigen Zwischenansagen komplett in der Hand. Kurz wurden große Soul-Vorbilder wie Otis Redding oder Sam Cooke zitiert, schließlich ging das Konzert mit einer stampfenden Version von "Love & Happiness" gloriös zu Ende.
Al Green und seine musikalische Familie (die Backup-Sängerinnen waren allesamt seine Töchter, die leicht deplatzierten Tänzer vermutlich/hoffentlich auch verwandt) hatten uns etwas mehr als eine Stunde lang eindrucksvoll die Essenz von Soul vorgeführt: Ja zum Leben, zu den leisen wie den lauten Tönen, zur Spontaneität und zur Leidenschaft. Wenn von der Frohbotschaft dieses Abends auch nur ein Bruchteil in Mehrheitsösterreich hängenbliebe, es wäre ein großer Schritt nach vorne.