Erstellt am: 1. 7. 2010 - 15:35 Uhr
"I just do not understand this"
Als ich vor Anfang des letzten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts mit dem Journalismus begonnen hab, gab's ein Wort, das sich in sämtlichen Redaktionen zum Abwimmeln unerwünschter Stories eignete, weil seine Verwendung einen Vorsprung seitens des/der Abwimmelnden suggerierte: "Abgefrühstückt."
Was bereits im medialen Magen verdaut worden war, sollte nicht mehr herausgekotzt werden, lautete die Orthodoxie jenes düsteren Rolling-News-TV-Zeitalters prä-Internet/post-Reportage-Kultur. In Großbritannien sog zu jener Zeit ein Boulevard-Schreiber beim Daily Mirror namens Alastair Campbell diese Lektion auf. Als er dann 1997 als Tony Blairs Spin Doctor auf die andere Seite der Berichterstattung wechselte, wusste er diese als Vorwärtsdrang getarnte Faulheit für die Zwecke seines Herren zu nutzen, indem er sich die Abfrühstückungsfrequenz der Medien zu Nutze machte und gezielt Übersättigungsstrategien einsetzte.
Na und? Wissen wir eh, ist alles längst abgefrühstückt, werdet ihr sagen. Aber es tut ganz gut, sich hin und wieder daran zu erinnern, wie wirksam diese Taktik des Abstreitens, Ablenkens, Aufwirbelns und Aussitzens bis heute bleibt.
Von Zweifel keine Rede
Zumindest in diesem Land ist es über die Jahre zum politischen Mainstream-Konsens geworden, nicht mehr allzu viel an der Geschichte des Irak-Kriegs zu rühren. Die Briten sind abgezogen, was getan ist, ist getan, und wir einigen uns zivilisiert darauf, damals verschiedener Meinung gewesen zu sein.
Und so war es heute einzig dem Independent die Titelseite, dem Guardian gerade Seite 4 wert, als einer der wichtigsten Puzzle-Steine im Zustandekommen eines Kriegs auftauchte, der immerhin geschätzte (weil schändlicherweise ungezählte) hunderttausende Todesopfer forderte und die Städte des Irak, als rattenverseuchte, zum Himmel stinkende, nur dürftig mit Strom versorgte Schauplätze täglicher Bombenattentate hinterlassen hat.
Wenn Tony Blair nicht so weit geht, seinem Schöpfer das ultimative Gericht über seine Taten zu überantworten, beruft er sich gern vertrauensvoll auf das Urteil künftiger Geschichtsbücher. Und selbst wenn die bekanntlich immer von den Siegern geschrieben werden, werden jene sich ab heute schwer tun, die zu Blair und Browns Zeiten beharrlich unter Verschluss gehaltenen, nun vom Cabinet Secretary enthüllten, rechtlichen Anweisungen des Attorney General Lord Goldsmith vor dem Krieg zu ignorieren.
Bisher wussten wir, dass Goldsmith Tony Blair am 7. März 2003, also bloß zwei Wochen vor Beginn des Bombardements von Baghdad, seinen juristischen Freibrief zur Invasion des Irak erteilte. Wir wussten auch von Aussagen vor dem laufenden Chilcott Inquiry her, dass Goldsmith seine Meinung geändert hatte, nachdem er zuvor Zweifel geäußert hatte.
Der jetzt zutage getretene wahre Wortlaut seiner Schreiben an Blair spricht allerdings eine wesentlich deutlichere Sprache.
Die Beratungsresistenz des Kriegstreibers
Am 30. Juli 2002 schreibt Goldsmith, der springende Punkt sei, ob ein Angriff seitens des Irak auf Großbritannien bevorstehe: "Die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen ist für sich noch nicht ausreichend, um so ein Bevorstehen anzuzeigen." Goldsmiths Ansicht sei daher, dass "in der Abwesenheit einer frischen Resolution des Sicherheitsrats" militärisches Vorgehen "unrechtmäßig" sei. "The position is, in my view, clear", lautet der letzte Satz. Von Zweifel keine Rede. Das ist eine unzweideutige juristische Absage an den Krieg.
Im Oktober 2002 telefoniert der Attorney General dann mit dem Außenminister Jack Straw und äußert Bedenken über Berichte, wonach Tony Blair George Bush zugesichert hätte, dass Großbritannien auch ohne eine neue Resolution des Sicherheitsrats an einer amerikanischen Invasion teilnehmen würde: "Die Regierung darf nicht in die Falle gehen, zu glauben, dass sie in der Lage ist, Aktionen auszuführen, die sie nicht ausführen kann. Noch darf die Regierung Ihrer Majestät der US-Regierung versprechen, dass sie Dinge tun kann, die der Attorney für unrechtmäßig hält."
Im Jänner 2003 lehnt Goldsmith die von der Regierung zu diesem Zeitpunkt gern verbreitete Auslegung der alten Resolution 1441 als Autorisierung der Verwendung von militärischer Gewalt "klar" ab.
In den jetzt veröffentlichten Unterlagen finden unter anderem der von Tony Blair selbst neben diese Aussagen des Attorney General gekritzelte Satz "I just do not understand this". Und was einer nicht versteht, kann er offenbar ignorieren.

Paul Faith / Pool
Am 30. Jänner, dem Tag, bevor Blair den amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus zur Vorbesprechung des kommenden Kriegs treffen sollte, meldet sich Goldsmith noch einmal zu Wort: "In Anbetracht Ihres Treffens mit Präsident Bush am Freitag, dachte ich, dass sie wohl gerne wissen würden, welchen Standpunkt ich zu der Frage einnehme, ob eine weitere Entscheidung des Sicherheitsrats rechtlich notwendig ist, den Gebrauch von Gewalt gegen den Irak zu autorisieren. Sie sollten sich bewusst sein, dass ich selbst im Lichte der zusätzlichen Argumente, die mir seit unserer letzten Diskussion unterbreitet wurden, der Ansicht bleibe, dass eine korrekte rechtliche Interpretation der Resolution 1441 den Gebrauch militärischer Gewalt ohne eine weitere Festlegung durch den Sicherheitsrat nicht rechtfertigt."
Matthew Rycroft, ein Mitarbeiter Tony Blairs, versieht dieses Schreiben des Attorney General mit der vielsagenden Notiz: "Haben dezidiert gesagt, dass wir diese Woche keine weitere Beratung brauchen." Sprich: Wenn Goldsmith nichts zu sagen hat, was wir hören wollen, soll er gefälligst schweigen.
Am 12.2., nachdem Goldsmith selbst nach Washington geschickt und dort vom Apparat der US- und der UK-Administration gleichzeitig intensiv bearbeitet wurde, erklärte er sich schließlich bereit, "zu akzeptieren, dass es sich begründen lässt, dass die Resolution 1441 die Berechtigung zur Verwendung von Gewalt aus Resolution 678 wiederbelebt."
Trotzdem äußert er die Erwartung, "dass die Regierung einer unrechtmäßigen Handlung bezichtigt werden würde."
Goldsmith führt weiter aus, dass diese Gewalt nur zur Entwaffnung des Irak angewendet werden dürfe: "But regime change cannot be the objective of military action."
Alles wie gesagt Schnee von gestern.
So wie es alle Geschichte immer ist.
...und jetzt die Friedensmedaille
Die heutige, aktuelle News-Meldung ist dagegen, dass Ex-Präsident Bill Clinton Tony Blair im kommenden September die Liberty Medal des National Constitution Center für Friedensstifter verleihen wird: "in Anerkennung seines beharrlichen Engagements zur Konfliktlösung."
Die 100.000 Dollar, die Blair zusätzlich zu seiner Medaille kriegen wird, will er seinen eigenen Wohltätigkeitsorganisationen, der pro-religiösen Tony Blair Faith Foundation und der das Drogenentzugsprinzip der "tough love" auf die Entwicklungspolitik übetragenden, postkolonialistischen Tony Blair Africa Governance Initiative spenden.
Weil er (siehe oben) ja genau weiß, was es heißt, verantwortungsvoll zu regieren.
Es ist anzunehmen, dass der Multimillionär mit dem äußerst undurchschaubaren Einkommen auch ohne das Preisgeld sein Auslangen finden wird.
Die Presseaussendung des National Constitution Center ist übrigens hier nachzulesen. Sie enthält vier Mal das Wort "Middle East", zwei Mal das Wort "Kosovo" und sieben Mal das Wort "Northern Ireland". Das Wort Irak bleibt bezeichnenderweise unerwähnt.