Erstellt am: 19. 7. 2010 - 14:33 Uhr
Totgesagte Spielen Länger
Obwohl diese Geschichte schon länger in Arbeit ist, passt sie nachträglich ganz gut zur hier eingeforderten "qualifizierten Langsamkeit" in der Einschätzung von musikalischen Produkten. Umso besser!
Da wollten die doch glatt das "Album der Woche" abschaffen. Weil ja nicht nur ein Jahres-, sondern gar ein Jahrzehntewechsel bevorstand und der Tod der Langspielplatte ohnehin nur noch eine Frage der Zeit sei. Paradigmenwechsel oder so.
Aber 2010 wehrte sich scheinbar dagegen, das Jahr zu sein, in dem die Gattung "wohlüberlegt zusammengestellte Sammlung schöner Lieder" ausstirbt. Oder aber: Verschiedene Musiker/innen begehrten bewusst gegen den Zeitgeist mit der ultrakurzen Aufmerksamkeitsspanne auf. Wie auch immer, einige Resultate dieser Entwicklung machten im ersten Halbjahr auf verschiedene Weisen große Freude. Ob jetzt durch stringent durchgezogene große Konzepte oder einfach nur stimmigen Vibe und guten dramaturgischen Aufbau.
Die nun folgenden sechs Platten sind für mich die eindrucksvollsten Zeichen für ein Weiterleben des Albums - und somit eine schöne Ergänzung zum täglichen Besuch von SoundCloud und diversen Blogs, zu all den abertausenden Mixtapes (ein besonders schönes von Cali-Rapper Fashawn sei hervorgehoben) oder einfach über Twitter hergeschenkten Einzeltracks (oder wie im Fall von Grime-König Wiley gleich mehrere pralle ZIP-Files). Denn dass der Aufstieg des One-Hit-MP3s automatisch den Tod des Albums bedeutet, wäre eine zu einfache Schlussfolgerung.
Gil Scott-Heron - I'm New Here

xl recordings
Dem herausragenden Comeback des großen Soul/Spoken Word-Helden wurde an dieser Stelle schon ausführlicher gehuldigt. Auch mit einigen Monaten Abstand harmonieren die dunklen elektronischen Beats von Richard Russell und die teils zerbrechliche, teils eindringliche Stimme von Scott-Heron noch vorzüglich. In der Zwischenzeit hat z.B. "I'll Take Care Of You" mehrmals ganze Partycrowds mit einem melancholisch-wohligen Gefühl nach Hause geschickt. Und es dauert jetzt auch nur noch fünf Tage, bis wir Ostösterreicher den großen GSH in Person erleben dürfen!
Freeway & Jake One - The Stimulus Package

Rhymesayers
Abteilung "Besinnung auf alte Tugenden". Früher war das normal: Ein MC und ein Produzent/DJ entwickeln über Albumlänge(n) eine gute künstlerische Chemie. Eigentlich logisch, dass im Zeitalter von Rapperalben mit dutzenden Produzenten (und Produzentenalben mit dutzenden Rappern) auch wieder die natürliche Gegenbewegung Wind bekommt. Und diese Seattle/Philadelphia Connection bringt das beste in beiden Beteiligten hervor: Freeway arbeitet sich zur Bestform zurück und Jake One schneidert ihm einen Hit nach dem anderen auf den Leib. Es geht ja doch noch!
Gonjasufi - A Sufi And A Killer

Warp
Noch eine Produzenten/Vokalisten Combo, eigentlich. Trotz zwei Mainframe-Beats und einem von Flying Lotus ist das hier eindeutig die Party des Gaslamp Killer. Mit großzügigen Loops obskurer Vinylfundstücke zwischen Bollywood-Ballade oder spanischem Psych Rock bastelt der kalifornische Produzent perfekte Unterlagen für das rauchig-heisere Organ des Yogalehrers, der seine Lieblingspflanze und die Religion seiner Wahl im Künstlernamen vereint. Und diese Stimme, die die Lebenserfahung von mindestens sieben Menschenleben suggeriert, hält das musikalische Mosaik sehr hörenswert zusammen.
Erykah Badu - New AmErykah Pt. 2: Return Of The Ankh

Universal Motown
Okay: Ein radikales Meisterwerk wie Teil 1 ist "Return Of The Ankh" nicht. Anfangs klang das viel zu sehr nach "der alten Erykah". Natürlich ist das Frühwerk der texanischen Soul-Göttin auch nicht zu verachten - aber wenn man ihre Stimme einmal in Verbindung mit seelenvoll-apokalyptischem Beatwahnsinn gehört hat, braucht man das, was Journos damals unelegant "Neo Soul" nannten, nicht mehr so dringend. Die gute Nachricht, ein paar Monate später: New AmErykah Pt. 2 ist auf seine eigene, viel emotionalere, Weise auch ein großes Album, dass auf voller Länge und nach mehreren Durchläufen immer neue Facetten offenbart. Was wird uns Teil 3 bringen?
Flying Lotus - Cosmogramma

Warp
Der Mann weiß, was er will. Auf den Vorabkopien zum heiß erwarteten dritten Albums ließ Stephen Ellison alias FlyLo alle Songs in einem zusammenhängenden Track verschicken, damit die Reviewer nicht so leicht dem zuckender-Skip-Knopf-Finger Syndrom erliegen konnten. Und tatsächlich: Es mag auf "Cosmogramma" zwar herausragende Songs, veritable Pophits oder gar House-Stampfer geben - die volle Wirkung entfaltet dieser musikalische Trip durch Galaxien voll wundersamer Streicher, Harfen und Rhythmen aber nur in seiner Gesamtheit.
Onra - Long Distance

All City
Nachdem er sich auf früheren Konzeptalben schon durch die Soundwelten Chinas, Vietnams und Indiens gesamplet hatte, entdeckte der Pariser für seine neue Platte den R&B der frühen 80er Jahre für sich. Eine Genre/Ära-Kombination, die mir zugegebenermassen bislang vor allem durch Synthie-Schmalz und fragwürdige Frisuren aufgefallen war. Onra liefert da ein ganz anderes Bild: Die destillierten funky Momente der Originale kombiniert mit druckvollen Drums können schon für sich stehend durchaus brillieren, wenn dann auch noch Vokalgäste wie Olivier DaySoul oder T3 dazukommen, ist die retrofuturistische Zeitreise perfekt.
Und dann?
Für den Rest von 2010 sieht es auch alles andere als schlecht aus. Die Roots haben ihr Lob hier schon abgeholt, Big Boi bekommt seines wohl auch noch. Für den Herbst ist dann zB das große Aloe Blacc Album angesagt, Kanye West kommt zum Rap zurück und am nächsten MC Eiht-Lebenszeichen treffen mit Compton und Kaisermühlen zwei Welten aufeinander...
Die Nachrufe auf die Langspielplatte dürften also noch eine Weile in den Redaktions-Schubladen dahinstauben.