Erstellt am: 29. 6. 2010 - 19:16 Uhr
Mars macht erneut mobil
"Morgenstunde hat Gold im Mund", eine altes Sprichwort, das perfekt auf Roberto Di Gioia zutrifft. Denn der deutsch-italienische Musiker, Produzent und Auftragsarbeiter steht in einem kleinen Städtchen in der Nähe von München mit den Vögeln auf, um sich vor seiner ersten Tasse Cappucino an das Klavier oder den Rechner zu setzen und seinem kreativen Fluss freien Lauf zu lassen.
Roberto: "Morgens ruft dich auch niemand an, es sind keine Mails am Start, man hört noch keinen Autolärm, die Vögel zwitschern. Das ist eine perfekte und ganz entspannte Arbeitssituation. Außerdem hat man bis Mittags schon etwas geschafft und Disziplin ist für mich sehr wichtig. Es tut mir gut immer früh aufzustehen und zu arbeiten, sonst würde ich wohl ziemlich schnell versandeln. Das sagt man doch bei euch so oder?"
Zum einen erklärt diese frühmorgentliche Schöpfungsphase des Marsmobil-Masterminds ein bisschen die fast schon übermenschlich entspannte Atmosphäre auf dem neuen Album, zum anderen ist "versandeln" genau der passende Ausdruck in Österreich für den Zustand des Sich-und-alles-andere-in-seinem-Leben-gehen-Lassens. Was wiederum Roberto Di Gioia nie passieren wird, wenn man sich seine musikalische Erfolgsgeschichte ansieht und seinen analytischen und stark reflexiven Charakter erkennt, der hinter dem Konzept des neuen Marsmobil Werks "(Why Don't You Take) The Other Side" steckt.

Marsmobil
Die vier Götter des beautiful Mr. R
Vielleicht ist Wunderkind nicht unbedingt der richtige Ausdruck, beachtlich ist es jedoch allemal, dass Roberto Di Gioia schon mit vier Jahren am Klavier sitzt und nicht nur mit seinen Händen wahllos auf den weißen und schwarzen Tasten herumhämmert. Nach den ersten Versuchen, mit den kleinen Fingern wohlklingende Akkorde zu spielen begleitet er schon die Songs seiner Lieblingsband, den Beatles. Die Liebe zu den Pilzköpfen dauert ungebrochen bis zum heutigen Tag an und beeinflusst maßgeblich sein Projekt Marsmobil. Ein Song wie "Cry For A Day" mit seinem letargisch wirkenden Chorgesang im Refrain hat viel von der Magical Mystery Tour-Phase, wobei der kurze Mittelteil den typischen Strawberry Fields Mellotron Sound erklingen lässt.
Roberto: "Meine letzte Beatles Platte hab ich vor nicht mal drei Jahren gehört, weil mir die Musik extrem nahegeht. Und für mich sind sie nach wie vor die vier Götter. Ich will das auch nicht ablegen, es ist einfach mein privates Heiligtum."

Marsmobil
Aus "The Other Side" kann man jedoch viel mehr Referenzen heraushören, die von der psychedelischen Vergangenheit bis in die gegenwärtige Popmusik reichen. Der Grundsound ist eindeutig in den sechziger und siebziger Jahren verortet. Da flirren einem verhallte Vocals um die Ohren, das Schlagzeug scheppert charmant im hölzernen Aufnahmeraum dahin, Klavier und Gitarre werden hie und da durch einen Flanger gejagt (ein soundtechnisches Markenzeichen der 70ies, das oft auch über ganze Songs gestülpt wurde) und der chorartige, mehrstimmige, zuckrige Gesang zergeht auf der Zunge, wie die Watte aus der Kindheit. Diese Soundästhetik haben auch die Franzosen Air auf ihren letzten Alben perfektioniert und bei Love 2 auf die Spitze getrieben. Der Unterschied zu Marsmobil liegt jedoch darin, dass Roberto Di Gioia sich seiner Einflüsse sehr bewusst ist und sie zwar als inspirative Quelle aufnimmt, sein reflektiver Trichter jedoch nur Bruchstücke durchlässt, die dann zu einem neuen Gesamtmosaik zusammengepuzzelt werden können.
Roberto: "Ich habe irgendwann diese ganzen Einflüsse gegessen, verdaut und dann auch wieder ausgeschieden. Und das Ausgeschiedene bin ich (lacht), also es ist das Ergebnis meiner Arbeit und mit dem muss ich ja dann auch leben. Deshalb kopiere ich nichts oder versuche Einflüsse getreu wiederzugeben."
Und trotzdem tauchen vor dem inneren Auge immer wieder verschiedene Namen auf, wenn man sich das Album durchhört. Vor allem die wundervolle Single "Moon Of Dust", die von einer etwas zappeligen, rhythmisch ungeraden Strophe in einem wohlig warmen Refrain übergeht, könnte auch aus der Feder von Mr. E stammen. Aber auch hier gilt das gleiche Prinzip wie bei den anderen "Zitaten". Sie werden gefiltert, neu verarbeitet und in den bestehenden, eigenständigen Klangkosmos integriert.
Außerdem zeigt sich in diesem passend psychedelischen Video, dass Roberto Di Gioia wirklich alles selbst komponiert und einspielt. Aber ganz Solo ist der extrem professionelle Songschreiber bei der Produktion des Albums nicht gewesen.
Die Dualität des Trios
Ein langer Weggefährte von Roberto Di Gioia ist Christian Prommer, ebenfalls ein musikalischer Wunderwuzzi, der neben seinem Drummlessons-Projekt auch bei Fauna Flash, Voom:Voom oder dem Trüby Trio mitgearbeitet hat. Gemeinsam mit Peace Orchestra Mann und der "besseren Hälfte" von Richard Dorfmeister, nämlich Peter Kruder hat er Marsmobils "Minx" produziert und auch diesmal haben die beiden "The Other Side" wesentlich mitbeeinflusst. Wobei das über etwaige Kürzungen von Stücken oder leichte Abänderungen von Arrangements hinausgeht. Kruder und Prommer sind wenn man so will die emotionale Stütze, selbst wenn sie gar nicht anwesend sind.

Roberto Di Gioia
Roberto: "Einen ganz wichtigen Teil meines Weges habe ich mit den beiden in den unterschiedlichsten Konstelationen bestritten und ihr Einfluss begleitet mich schon lange und sehr intensiv. Fast schon jeden Tag denke ich wenn ich Musik mache immer an die beiden. Marsmobil ist also ein Gesamtbild, das Peter, Christian und ich gemalt haben."
Mastermind ist und bleibt jedoch Roberto Di Gioia, denn während der letzten drei Jahre hat er an der Grundstimmung und an dem größeren Konzept des Albums gebastelt, das eigentlich schon im Eröffnungsstück Preis gegeben wird.
Roberto: "Der erste Satz von 'Patience' lautet ja: Why don't you take the other side. Das ist Gleichzeitig auch das Thema der ganzen Platte. Es geht um Dualität, um den Blick von Innen nach Außen oder von Unten nach Oben. Wenn man diesen Blickwinkel ändert, dann ändert man damit auch die eigene Wahrnehmung."
Die Überrumpelung des Perfektionismus
Das neue Marsmobil Album besticht durch eine ganze Palette an fein gezeichneten Popsongs, die unter der simpel erscheindenen Oberfläche sowohl harmonisch, als auch in den strukturellen Schichten eine gehörige Komplexität aufweisen. Man kann die Songs sofort mitpfeifen und trotzdem eröffnen sich auch nach mehrmaligem Hören immer wieder kleine Details, schöne Ungenauigkeiten und spannende Melodiebögen.
Darüber hinaus ist es Roberto Di Gioia hoch anzurechnen, dass er trotz seines Klassikstudiums, seiner langen Jazzausflüge (mitunter mit Doldingers legendären Band Passport) und seinem enormen Musikwissen, das er sich in den letzten vierzig(!) Jahren angeeignet hat, versucht, sich durch seine intensiven und schnellen Schreibphasen in der Früh selbst zu überraschen und seinen Perfektionismus dadurch immer wieder zu übertölpeln. Und nicht zuletzt zieht der sympathische und extrem umgängliche Musiker gerade aus seinen wenigen Schwächen die größte Inspiration, Kraft und daraus auch Erfolg. Denn obwohl Roberto Di Gioia auf "The Other Side" mehr denn je seine Stimmbänder in einer extrem professionellen und selbstsicheren Art schwingen lässt, war der Gesang die größte Herausforderung.
Roberto: "Ich hab mir bei vielen Dingen immer leicht getan, wie beim Klavierspielen, da ich schon sehr früh damit angefangen habe. Beim Singen tu ich mir extrem schwer. Aber ich finde das gut., weil dann muss ich mich anstrengen, am Riemen reißen und das merken die Leute. So blöd das klingt, aber wenn ein Kampf dahinter steht, wirst du dadurch auch glaubhafter und kredibiler."
Und wen das jetzt alles nicht überzeugt hat, dass Roberto Di Gioia mit Marsmobil ein wundervolles Album geglückt ist, der sollte sicheinfach das leichte, swingende, gefühlvolle und reduzierte Anfangsstück "Patience" anhören.