Erstellt am: 6. 6. 2010 - 15:00 Uhr
Glücksrad statt U6
Kürzlich saß ich in der U-Bahn einer Frau und ihrem ungefähr siebenjährigen Kind gegenüber. Die Frau war von jenem recht seltenen weiblichen Schlag, der schon unter vierzig eine damenhafte Aura hat, ohne sich mit knalligen Parfums, üppigen Armreifen oder maßlosem Make-up dekorieren zu müssen. Sie machte auf jeden Fall den Eindruck, mit großer Sorgfalt und Selbstdisziplin auf ihr Erscheinungsbild zu achten. Ihre Gesichtszüge waren streng, aber nicht verhärmt.
Mit jenem dezenten und recht charmanten Akzent, der die Aussprache vieler Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien auch noch nach Jahrzehnten würzt, hielt sie plötzlich den bis dahin schweigend aus dem Fenster starrenden Jungen an, ihr die Stationen der Linie U6 vorzutragen. Zu diesem Zweck musste er zu den im Eingangsbereich angebrachten Netzplänen gehen und der weiterhin sitzenden Mutter laut und deutlich die Haltestellen vorlesen. Meine obige Altersschätzung rührt von der Beobachtung, dass das Kind zwar ein bisschen lesen konnte, aber anscheinend noch nicht bei allen Buchstaben sattelfest war und vor allem immer nach der ersten, korrekt entzifferten Silbe die Wörter mit erfrischender Phantasie zu Ende erfand.
Die schöne Mutter war mit seiner Leistung sehr unzufrieden. Nach einigen Zwischenfragen – Er musste beantworten, wo die beiden eingestiegen waren, in welche Station der Zug gerade einfuhr und was ihr Ziel war – musste der noch immer fügsame Bub erneut lesen.

marc carnal
Mittlerweile waren auch die anderen Fahrgäste auf die akustisch nicht zu ignorierenden Erziehungsmaßnahmen der jungen Dame aufmerksam geworden, schließlich gab sie ihre harschen Kommandos aus einigen Metern Entfernung, die auch ihr kleiner Zögling stimmlich zu überwinden hatte.
Die meisten Namen las er erst nach einigen Anläufen korrekt vor, bei der Station "Burggasse" machte er aber den entscheidenden Fehler, irrtümlicherweise "Burger-Gasse" zu lesen und dies obendrein wie den amerikanischen Snack auszusprechen.
Holla, da war Schluss mit lustig. Nicht keifend, aber in erstaunlich scharfem Ton konterte die Mutter, er möge sich gefälligst bemühen. Sie drohte ihm keine Konsequenzen an, weil die für den Kleinen wohl bereits durch gewisse Stimmfrequenzen zu erahnen waren. Nun sagte der Sohn etwas weinerlich und trotzig, aber ohne zu weinen, er habe keine Lust mehr und fragte mit dem Vokabular eines kleinen Kindes, warum er denn vor Publikum Stationen rezitieren müsse.
Die damit provozierte Replik war etwas… nun, ich benutze dieses Wort keinesfalls inflationär, aber… radikal: "Du machst, was ich dir sage, weil du mir gehörst, bis du achtzehn bist."
Für gewöhnlich gehört es zu den wichtigsten Disziplinen im öffentlichen Nahverkehr, so zielsicher wie möglich aneinander vorbeizustarren. Während der barschen Zurechtweisung der attraktiven Mutter dagegen starrte man einander ungläubig an.
Ron Tyler Archiv - Referenzen:
0131 / Wie bring man Kindern Tischmanieren bei?
0114 / Öffentlich zum AKH
0053 / Rechenaufgabe
Ich bekam noch einen Lese-Durchgang des heranwachsenden Neo-Anti-Analphabeten mit und musste dann aussteigen.
Zu gerne hätte ich mitbekommen, welche Aufgaben er noch aufgezwungen bekam. Ließ ihn seine Mutter die Stationen vielleicht noch rückwärts lesen? Essag-Grub klingt ein bisschen nach internationalem Ölkonzern, Ualet-Tips nach wertvollen Hinweisen zu einer modernen asiatischen Heilmassagemethode, Aalretla wie ein isländischer Pferdename und Fohnhabtsew immerhin nach betrunkenem Gebrabbel. Oder musste der Kleine Fahrgäste zählen und alternative Gratiszeitungs-Schlagzeilen erarbeiten?

marc carnal
Unter dem frischen Eindruck der Live-Erziehung neigte ich zu dem Urteil, dass so was ja wohl gar nicht geht. Schließlich tat mir das vorgeführte Kind leid. Mit dem nötigen zeitlichen Abstand, unter dem mir diese Zeilen aus der Feder fließen, finde ich immer weniger Schimpfliches an dem merkwürdigen Mutter-Kind-Auftritt. Zwar ist es nicht besonders sensibel, Kinder im Beisein Fremder vorzuführen und es gibt womöglich ein paar, wenn nicht gar ein Dutzend, womöglich sogar Millionen wichtigerer Wissensgebiete als die Reihenfolge von Bahnstationen. Auch die fragwürdige Rechtfertigung der Mutter, ihr Kind würde "ihr gehören", ist juristisch wie moralisch falsch.
Davon abgesehen war sie aber einfach nur streng. Sehr sogar, womöglich völlig übertrieben, aber eben doch nur streng.
Ungerechtigkeit hat andere, viel fiesere Gesichter. Körperliche Züchtigung von Kindern ist an sich ungerecht, sie beweist eine charakterliche Schwäche, die es nötig macht, einen naturgegebenen Vorteil auszuspielen. Noch schlimmer als eine sich auf Nichtigkeiten konzentrierende und überzogen sanktionierende Strenge ist es allerdings, Kinder gar nicht zu erziehen. Ich bin schon vielen Menschen begegnet, die sehr oder meiner Ansicht nach zu streng erzogen wurden. Ein Schulkollege von mir musste zu Hause die Bibel auswendig lernen, woran er freilich gescheitert ist. Eine erziehungsberechtigte Leiterin von Benimm-Volkshochschulkursen verhang mehrtägigen Hausarrest, wenn ihre Tochter, die mit mir die ersten vier Jahre meiner Schullaufbahn bestritt, es wagte, beim Essen mit vollem Mund zu sprechen. Immer wieder erzählen mir Freunde und Bekannte, was sie in ihrer Kindheit alles mussten oder nicht durften und verblüffen mich damit nicht selten. Es ist nicht nur überwältigend, wie viel Taschengeld manche verhätschelten Arztpraxis-Erben mit zehn Jahren bekommen, sondern auch, wie wenig manche noch mit sechzehn erhalten.
Keiner dieser Berichterstatter elterlicher Unnachsichtigkeit ist jedoch unglücklich, unambitioniert, dumm oder hartherzig. Manche schätzen im Nachhinein gar die harten Prüfungen von einst.

marc carnal
Mit dem Elternhaus hadern dagegen eher jene, die gar keine Zuwendung erfuhren, die mit Bildschirmen ruhig gestellt, mit Fertiggerichten gemästet oder wegen Ignoranz verhärmt wurden. Die Zahl der Vernachlässigten ist beim Therapeuten wohl ungleich höher als die der mit Liebe Geknechteten.
Zweites ist unpopulär und erfordert Fleiß. Meine Mutter war auch bei meiner dreißigsten Bitte nach Zuckerwerk beim Nahversorger nicht zu faul, sie mir bestimmt abzuschlagen. Die Begründung war einfach und richtig: Es kostet Geld und ist ungesund. Das hatte ich so schnell verstanden, dass ich mich überhaupt nicht daran erinnern kann, jemals beim gemeinsamen Einkauf nach irgendetwas gebettelt zu haben. Trotzdem wurde mir auch von den größten Koryphäen der Medizin nie Unterzuckerung attestiert. Heute weiß ich deshalb nicht nur, dass man nicht immer alles in sich hineinscheffeln muss, was im geilen Kleide lockt, sondern hadere auch nicht mit allem, was halt gerade nicht sein soll, kann oder darf.
Höchstens hadere ich damit, dass es im Fernsehen kaum noch unterhaltsame Gameshows gibt. Der Zonk aus der Sendung "Geh aufs Ganze" war ein herrliches Wesen und stand wunderbar unmissverständlich für das Versagen, ein goldenes Verdienstzeichen für den Zonk, der auf so sympathische Art überhaupt nicht schillerte. "Ruck Zuck" versammelte täglich die uneloquentesten Gestalten des deutschen Sprachraums, trotzdem drückte der unvergessene Werner Schulze-Erdel, der kleine Bruder von Claus Theo Gärtner, immer "beiden Teams die Daumen."
Und durch das "Glücksrad" lernte ich schon vor dem Schuleintritt lesen. Meine Mutter war begeistert. In Salzburg gab es schließlich keine U-Bahn.