Erstellt am: 17. 4. 2010 - 17:16 Uhr
Die polnische Tragödie
Von Maciej Palucki

Pinie Wang
Maciej Palucki ist ein in Polen geborener Journalist und DJ
Ganz Polen ist eine Woche nach der Staatstragödie nach wie vor wie paralysiert - 96 wichtige Personen des Landes, darunter auch der amtierende Präsident Lech Kaczynski und Ehefrau Maria starben beim Flugzeugabsturz im russischen Smolensk. Nicht nur die Tatsache, dass dabei die "Elite des Landes ausgelöscht wurde", wie es Ex-Präsident und Solidarnosc-Legende Lech Walesa formulierte, erschüttert die Bevölkerung, die Tatsache, dass die hochrangige Delegation zu Trauerfeierlichkeiten nach Katyn unterwegs war, verleiht dem großen Unglück eine zusätzliche, kaum in Worte zu fassende Schicksalhaftigkeit.

Macjei Palucki
Schauplatz Warschau
Der Himmel weint, als ich Montag in der polnischen Hauptstadt ankomme. Die an sich schon graue Metropole erscheint noch farbloser. Überall herrscht Fassungslosigkeit. Plakatwände an Straßenbahnhaltestellen, die ansonsten von knalligen Werbesujets dominiert werden, zeigen die Gesichter der 96 toten polnischen Personen. TV-Stationen und Tageszeitungen widmen sich ausschließlich dem tragischen Thema. Ihre Webseiten präsentieren sich schon seit Tagen in Schwarz-Weiß. Auch der Boulevard zeigt sich erstmals zahnlos: Theorien, wonach einer der hochrangigen Generäle, die in der Tupolew saßen, oder der Präsident selbst dem Piloten einen Befehl zur Landung hätte geben sollen - denn die Präsidentenmaschine war aus Warschau mit einer 23-minütigen Verspätung gestartet, der Druck auf den Piloten damit massiv - werden ausgeblendet. Auf kritische Berichte ausländischer Boulevardmedien reagieren polnische Journalisten gereizt und verweisen auf die eine Woche einzuhaltende Staatstrauer.
Dienstag

Macjei Palucki
Nach Lech Kaczynski wird auch die Leiche von Maria Kaczynska nach Warschau geflogen. "Die Königin der Herzen kommt nach Hause", titeln die Gazetten, welche nach wie vor ausschließlich von der Smolensk-Tragödie berichten. Sie hatte, im Gegensatz zum Präsidenten selbst, zu Lebzeiten hohe Beliebtheitswerte (vielleicht deshalb die terminologische Analogie zu Lady Di). Auch die Sportseiten sind voll von Trauerbekundungen polnischer Sportstars. Torhüter Jerzy Dudek beispielsweise, der derzeit bei Real Madrid unter Vertrag ist, wird interviewt. Auch er kann die Geschehnisse nicht in Worte fassen und erzählt von der Trauerminute vor dem samstägigen Spitzenspiel Real gegen FC Barcelona und dass der Präsident vorhatte, zu diesem Spiel anzureisen.
Dienstagnacht
Vor dem Palast des Präsidenten stehen Tausende, vielleicht sogar Zehntausende Polinnen und Polen in einer langen Schlange. Sie alle nehmen mehrere Stunden Wartezeit in Kauf, um sich vom Präsidentenpaar zu verabschieden, das im Palast nebeneinander aufgebahrt liegt. Einige der Familien, die extra nach Warschau angereist sind, haben sich frei genommen, sind in den Zug gestiegen und warten die ganze Nacht. Erst am Mittwochfrüh, zehn Stunden später, dürfen sie für einen kurzen Moment vor den Särgen von Maria und Lech verweilen.
Unermüdlich sind auch die PfadfinderInnen, die rund um die Uhr unzählige Kerzen und Abschiedsbriefe ihrer Landsleute sammeln, um sie vor dem Palast niederzulegen. Überhaupt hat man das Gefühl, dass nicht unbedingt – wie es vielleicht zu erwarten wäre – die ältere Generation vor dem Präsidentenpalast tonangebend ist, es sind vor allem junge Polinnen und Polen, die das Bild der öffentlichen Trauer prägen.

Macjei Palucki
Die Nachricht, dass das Präsidentenpaar nun in einer Krypta am historischen Wawel in Kraków – dort haben legendäre polnische Könige wie Jan III Sobieski oder Literatur-Ikonen wie Adam Mickiewicz ihre letzte Ruhestätte – und nicht in Warschau begraben werden, löst auch negative Reaktionen aus. Und auch hier zeigen die polnischen Medien, zum Beispiel der staatliche TV-Sender Telewizja Polska, junge aufgebrachte Menschen in Kraków. Sie skandieren, dass Lech kein König war. Und jeden Tag werden es mehr in Kraków.
Vielleicht spielt hier auch die ewige Rivalität der alten Hauptstadt Kraków und der derzeitigen Warschau eine Rolle. Kaczynski war, nüchtern und aus der Distanz betrachtet, sicher nicht Polens begnadetster Präsident. Aber er hat das neue Selbstbewusstsein Polens in der Europäischen Union und in der Welt repräsentiert. Das ist wohl auch der Grund, wieso die Staatstrauer um seine Person derzeit so gigantische Ausmaße annimmt (es werden mittlerweile auch Kaczynski-Devotionalien wie T-Shirts etc. verkauft).
Denn auch jene Leute, die ihn nicht gewählt haben und hinter der modernen Doktrin Donald Tusks stehen, respektieren die Attitüde Kaczynskis: "Er ist in Warschau geboren, war hier Bürgermeister und auch die Familiengruft ist hier. Also wieso wird Lech nicht hier bei uns begraben und dafür bei den Königen in Kraków", so ein älterer Taxler, der mich wieder zum Flughafen bringt. "Lech war populär hier, ein Begräbnis in Warschau wäre schön gewesen."
Ich verließ die Hauptstadt am Mittwoch. Warschau weint weiter.