Erstellt am: 17. 2. 2010 - 15:42 Uhr
Im schottischen Niemandsland
Jede Musikszene hat ihre Aushängeschilder. Sie bilden die Eckpunkte des jeweiligen Genre-Territoriums. Innerhalb dieses abgesteckten Raums gibt es mehrere Ballungszentren. Im Fall von Schottland, oder genauer Glasgow, ist der Indiepop eines der gut bevölkerten Gebiete, in dem Bands wie Travis oder Franz Ferdinand leben. Ein anderes Eck dieser musikalischen Landkarte wird von Post-Rock Acts besiedelt, zu deren bekanntesten Vertretern wohl Mogwai zählen. Nicht zu vergessen Boards Of Canada,, die auf elektronischem Gebiet zu den absoluten Innovatiosvorreitern zählen. In dem Spannungsfeld zwischen all diesen Punkten blitzen immer wieder Künstler auf, die sich auf den Weg machen, Genre-Niemandsland zu betreten.

Jayne Duncan
Bis vor drei Jahren hat das schottische Quartett Aereogramme die Kombination von Post-Rock, Pop und Elektronik erforscht und ihre Ergebnisse auf drei Alben und vielen EPs festgehalten. Doch der ökonomische Druck, finanzielle Daumenschrauben und die damit einhergehende, zwischenmenschliche Anspannung haben 2007 zum Ende der Band geführt. Jetzt melden sich Aerogramme Gittarist und Sänger Craig B und Iain Cook mit einem neuen Projekt zurück. The Unwinding Hours hält das musikalisches Erbe hoch und trägt es sogar über den bisherigen Klangkosmos hinaus.

John Speirs
A new beginning...
"Als erstes habe ich meine Gitarre in den Koffer gepackt und in die Ecke gestellt. Ein Jahr lang habe ich sie nicht mehr herausgenommen. Ich hatte nicht das Bedürfnis und spürte auch keine Inspiration, Musik zu machen."
So hätte es auch für die restliche Zeit bleiben können. Doch bei all den Umwälzungen und Veränderungen, die sich 2007 in Craigs Leben ereignet haben, war schlussendlich wieder viel da, was verarbeitet werden wollte. Insofern begann die Geschichte von The Unwinding Hours als seelenreinigender Alleingang ohne die Ambition im Hinterkopf, eine neue Band oder gar eine Veröffentlichung zu machen. Die kleinen Songskizzen und auf Zettel gekritzelte Textfetzen beschäftigten sich unweigerlich mit dem Gefühl des Abschieds. Nicht nur, was die jahrelange Arbeit der Band Aereogramme betrifft.
"Zu dieser Zeit beendete ich auch eine achtjährige Beziehung. Außerdem wurde ich schwer krank und als dann das Jahr 2008 kam, fühlte es sich wie eine Neugeburt an. Das klingt jetzt dramatischer als es war, aber wenn alles zu Ende geht, auf das du dich fast ein ganzes Jahrzehnt konzentriert hast, dann kann man es schon als Neubeginn bezeichnen."

Iain Cook
Als es darum ging, Demoversionen von ein paar Songs aufzunehmen, bat Craig seinen ehemaligen Bandkollegen und noch immer guten Freund Iain Cook um Hilfe. Die enge Beziehung der beiden, sowohl auf musikalischer, als auch privater Ebene, ist in jeder Minute zu spüren. Alleine wenn das gewaltige, sechsminütige Eröffnungsepos "Knut" sich mit verhallten Gitarren und herzzerreißender Harmonieführung recht leise ins Ohr schleicht, um dann in großem Gefühlskino mit brachialem Lärmsoundtrack zu gipfeln. Synthies und verzerrte Riffs flimmern und flackern auf der Leinwand, getragene Streichersamples und ein polterndes Schlagzeug drücken sanft auf die Magengrube, während Craigs zerbrechliche Stimme in den Himmel emporzuschweben scheint. Hier sind zwei Menschen am Werk, die sich blind und ohne Worte zu verstehen scheinen.
Zwischen Klaustrophobie und Euphorie
Das beeindruckendste Ergebnis dieses synergetischen Effekts ist "There Are Worse Things Than Being Alone", eine balladeske Nummer, die zu Beginn nur mit dem flüsternden Gesang von Craig, einer akustischen Gitarre, dezenten Violinen und sparsamen Pianotupfern auskommt. Doch nach drei Minuten schnürt einem zu den leidvollen Zeilen "let me out of here, my love, get me out of here, my love..." der Gitarrennoise die Kehle zu und man scheint in einem Klangmeer von krachenden Samples und dumpfen, tiefen Tönen zu ertrinken.
"Genau deshalb ist Iain so eine große Hilfe für mich. Er schafft es, meine Vorstellungen und die Gefühle, die ich vermitteln will, gut zu interpretieren und auch musikalisch umzusetzen. Bei diesem Song geht es nämlich um ein klaustrophobisches Gefühl, das immer schlimmer wird. Alles scheint in die falsche Richtung zu laufen und so wie sich der Song gegen Ende hin aufbaut, unterstützt und verstärkt er dieses Grundgefühl."
Was hier recht abstrakt klingt, hat einen sehr realen und eigentlich auch alltäglichen Hintergrund. Denn "There Are Worse Things Than Being Alone" beschäftigt sich mit Abhängigkeiten in Beziehungen, denen oft die Angst vor dem Allein-Sein zugrunde liegt.
"Ich weiß nicht, wie es in Österreich oder anders wo in Europa ist, aber in Glasgow sehe ich oft ziemlich verrückte Paare, die sich auf der Straße streiten, wild anschreien und fast anfangen, sich zu schlagen. Ich denke mir dann immer: Hey, ihr müsst nicht zusammen sein. Was hält Euch zusammen? Ihr seid ganz offensichtlich nicht glücklich, das ist nicht gesund, das kann nicht gut für Euch sein. In einer Beziehung zu sein, die dich unglücklich und krank macht, das ist glaube ich schlimmer, als alleine zu sein."

John Speirs
Auch das schwermütige, etwas schleppende "Child" erzählt vom Ende einer Beziehung, wobei die sphärischen Keyboardflächen, der gekonnt wacklige Gesang und die berührend schöne Basslinie dieses Stück zu einem zwar melancholischen, aber durchwegs hoffnungsvoll klingenden Post-Rock- und Pop-Glanzstück werden lassen. Das darauf folgende "Traces" besticht bei all seiner Ruhe und Entspanntheit mit gefühlvollen, ambienten Klanglandschaften, glitzernden Akkordzerlegungen, und elektrisierender Elektronik, die nur sehr sparsam am Soundhorizont auftaucht. Es ist ein weiteres, perfektes Beispiel für die großartige Zusammenarbeit des Duos, geht es doch in diesem Song über die erste Begegnung zweier Menschen und dem prickelnden Gefühl, dass sich gerade etwas ganz besonderes ereignet hat, wobei man noch nicht weiß, wohin einen diese Bekanntschaft führen wird. Absoluter Höhepunkt der Platte ist "Peaceful Liquid Shell", bei dem ein analoger Synth-Bass und der mehrstimmige Gesang Craigs von einem schrägtaktigen Rhythmus eingeholt wird, der sich über eine eingängige Bassgitarrenlinie schiebt, bis verzerrten Gitarren und ein lockeres Tamburine den überbordenden Refrain einleiten, mit dem sich The Unwinding Hours selbst übertreffen.
The final hours
In gewisser Weise kann man sagen, Craig und Iain führen mit ihrem neuen Projekt die Klangtradition ihrer Ex-Band Aereogramme fort. Es wäre auch wirklich schwachsinnig das abzustreiten, schließlich wird in der letzten Nummer "The Final Hour" des Debüts sogar ein Tondokument verwoben, das die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. Denn wenn man genau hinhört, tauchen während Craig einsam mit seiner Gitarre in einem endlos erscheinenden Raum zu spielen beginnt, im Hintergrund entfernte Stimmen auf. Eine undefinierbare Geräuschkulisse, die man nur schwer zuordnen kann.
"Ich habe diesen Song eigentlich schon 2007 geschrieben, kurz bevor wir auseinander gingen. Wir tourten gerade durch Amerika, als wir dort den Tontechniker unserer befreundeten Band Isis trafen. Als wir einen freien Tag hatten, ging ich zu ihm in sein Studio, um einen Song aufzunehmen. Er war schon damals nicht für Aereogramme gedacht. Diese Aufnahme kann man in 'The Final Hour' auch wirklich im Hintergrund hören. Eigentlich wollte ich den Song gar nicht am Album haben, er war mir viel zu persönlich. Aber Iain hat ihn großartig gefunden und mich dazu gebracht, ihn doch zu veröffentlichen. "

John Speirs
Craig und Iain haben jedoch weit mehr als nur ein Nachfolgeprojekt geschaffen. Schon jetzt stecken in den zehn Songs des Debüts frische und ausgereifte Ideen, die The Unwinding Hours zu einer eigenständigen und vielversprechenden Band machen. Denn mit jedem erneuten Hördurchgang kann man tiefer in die detailverliebte, dichte und ergreifende Soundwelt eintauchen. Und hoffentlich schaffen sie es diesmal einen Schritt weiter zu einem überlebensfähigen Aushängeschild innovativer Genremixtur zu werden.
Tipp:
Ein Interview mit The Unwinding Hours und Songs aus dem ihrem Debütalbum gibt es heute Mittwoch 17.02. in der FM4 Homebase ab 19:00 Uhr zu hören.
Außerdem werden The Unwinding Hours am 14. April 2010 im WUK Foyer, Wien zu sehen sein.