Erstellt am: 5. 2. 2010 - 00:43 Uhr
Out of my brain on the train
Ein Mann im Dracula-Mantel ist gerade zugestiegen. Und hat sich als ein deutscher Geistlicher auf Durchreise herausgestellt. Ehrlich, mich wundert nichts mehr.
Die gemeine Verkühlung, die ich diesen Winter von mir ferngehalten hatte, um mich ihr in den letzten Tagen schließlich mit ganzem Körper zuzuwenden, sie ist eine der letzten legalen Drogen. Die Zeit vergeht einmal stoßweise, dann wieder gar nicht, die Realität ist so nah und doch so fern wie ein Umlaut auf einem iPhone.
Und zwischendurch meint man dann, man wäre alert genug, das Haus zu verlassen, was sich prompt rächt, sobald einen auf dem High Speed Train der Luftzug der Klimaanlage erreicht. Ich sage hier jetzt „der“ Train, so wie es sich eingebürgert hat, obwohl mein Instinkt Richtung Femininum deutet (aber ich nehme an, es heißt halt „der Zug“), und meine damit die Hochgeschwindigkeitsbahnlinie, die neuerdings meine Provinzheimat mit der Metropole verbindet.
Ich und die schnelle Klientel

Robert Rotifer
Die Karten sind ein Drittel teurer als bisher, die Haltestellen weniger und die Kundschaft prompt eine ganz andere auf diesem Zug, das heißt, um diese Zeit - abends Londonwärts - ist er großteils fast völlig leer. Bis auf uns, Pfarrer Dracula und seine Frau im violetten Bärenkostüm, sprich Kunstpelz (damals in Wien in den Achtzigern hatte ich Freunde, die auf LSD in der U-Bahn ins U4 fuhren und uns Nicht-Trippenden von grünen Monstern unter dem Waggonboden erzählten. Schnupfen kann das offenbar auch).
Der Hochgeschwindigkeitszug, so sagen alle, wird das Leben in Canterbury verändern. 57 Minuten, das ist offiziell eine tolerable Pendlerdistanz. Die Hauspreise werden steigen (eine zumeist positiv gemeinte Behauptung). Die ganze Klientel wird sich drehen.
Und ja: Wenn ich zufällig zur Pendlerzeit nach Hause fahre, sitzt da schon eine neue Brut gehobener Angestellter auf ihren angestammten Plätzen, grüßt sich mit Vornamen und erzählt einander mäßig aufregende Anekdoten über den neuen Lebensstil des Hochgeschwindigkeitsbahnfahrens. Es scheint, ich hab nicht allzuviel verpasst in der Zeit meiner Abwesenheit.
Tony und sein höherer Richter

Robert Rotifer
Im Verlauf einer kleinen Österreich-Tour, direkt gefolgt von der halluzinogenen Erfahrung meiner Erkältung habe ich sogar ungefähr mitgekriegt, was Tony Blair Ende letzter Woche vor dem Iraq War Inquiry ausgesagt hat. Dass man eben irgendwas machen musste nach dem 11. September. Irgendwas. Und dass all das Bombardieren mit dem Friedensprozess eng verbunden war.

Robert Rotifer
Dass der Irak sonst jetzt atomar mit dem Iran konkurrieren würde, hätte man Saddam Hussein nicht beseitigt (die Hunderttausenden, die mit ihm gehen mussten, finden keine Erwähnung). Während er, der Iran, nach der präventiven Zerschlagung seines Konkurrenten jetzt natürlich erst recht eine atomare Bedrohung wäre. Weshalb man sich ihn, den Iran, nun eigentlich auch einmal vornehmen müsse. Wenn es heute nur Leaders (wie man auch im deutschen Sprachraum zur Schonung der Nerven gern unübersetzt sagt) gäbe, wie er selber damals einer war. Wie gesagt, mein Kopf ist nicht ganz klar derzeit, aber ich fürchte, die Logik dieses Typen ist es auch nicht.
Das wussten wir allerdings auch schon vorher. Genauso wie wir Claire Shorts Darstellung von Kabinettsitzungen kannten, bei denen nur gewitzelt statt diskutiert wurde, und von Ex-Außenminister Jack Straws Warnungen gehört hatten, die von Blair ignoriert wurden. Oder von den hohen Beamten, die sich vom Propagandaapparat der Downing Street übergangen fühlten. Hätten die damals nur rechtzeitig den Mund aufgemacht.

Robert Rotifer
Der Zug war eben nicht mehr aufzuhalten.
Gut, das mag ein unverhältnismäßig brachialer Metapherneinsatz gewesen sein, um zum Hochgeschwindigkeitsbahnfahren als Ausgangspunkt dieses Texts zurückzukehren, aber ich stehe dazu, und die Geschichte wird mein Richter sein (wieder Zitat Blair), und nicht etwa du (Und wer die Geschichte schreibt, bestimme ich).
Aber schluss jetzt. Am Ende ist das mit dem Halluzinieren schließlich auch bloß Einbildung. Oder wie der Hippie neben mir sagte, gerade als ich ca. 1988 beim meditativen Konzert des Sri Chimnoy in der Kurhalle Oberlaa bunte, kreisende Formen zu sehen begann: „Tschuldige, du schnarchst.“

Robert Rotifer