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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

15. 1. 2010 - 14:17

China Crisis

Nach Googles Drohung, den weltgrößten Internetmarkt zu verlassen: Wer braucht wen?

Am Bahnsteig Richtung London bringen die wetterbedingten Verspätungen die Leute ins Reden. Ein freundlicher Herr gibt mir erwartungsgemäß die zutiefst britische Erklärung dafür, warum dieses Land nicht für dezent kältere Temperaturen und winterlichen Niederschlag gerüstet ist. Übers ganze Jahr gesehen, sagt er, kämen ein paar Tage Stillstand immer noch billiger.

Ich melde sachte meine Zweifel an der Weisheit dieser Rechnung an, aber bevor sein zunehmend verletzter Nationalstolz die Belanglosigkeit der Konversation gefährdet, haben wir auch schon unversehens das Thema gewechselt. Er erklärt mir seinen Beruf, der keinen Namen habe. Er sei ein Life-Coach, ein Schlichter, ein Kommunikator, der Firmen in ihrem Umgang mit HR (=Human Resources=Menschen, die dort arbeiten) berät.

"Hab ich einen Messias-Komplex?"

Seine selbstgebastelte Philosophie klingt nach einer kuriosen Mischung aus Selbstverwirklichungs-Lala, antiautoritären Ansätzen, DIY-Esoterik und Businesslingo. Er spricht in der mit entwaffnender Selbstironie gewürzten Routine des Referenten, d.h. er mimt Aufgeschlossenheit, indem er sich selbst Fragen stellt, die er dann auch immer gleich selbst beantwortet („Wissen Sie, ich will die Welt verändern. Hab ich einen Messias-Komplex? Nein. Will ich die Welt verändern? Ja!“).

Er stellt sich als ein entschiedener Gegner der britischen Kriegsabenteuer heraus, der schon in den USA gelebt und auch sonst in seinem früheren Job als Bassist und Keyboard-Tech ein bisschen was von der Welt gesehen hat. In seiner Beratertätigkeit, sagt er, habe ein Auftrag ihn einmal nach Russland geführt. Via Dolmetsch habe ihn sein Kunde vor der versammelten Belegschaft gefragt, ob er eher bei Freud oder bei Jung zu Hause sei. Das könne er nicht beantworten, habe er ihm über seine Übersetzerin ausrichten lassen: "Ich hab beide nicht gelesen."

Die Russen hätten viel über seinen Witz gelacht. Bis zum Schluss hätten sie nicht begriffen, dass er eigentlich in vollem Ernst gesprochen hatte. Als er dem Chef der russischen Firma das später im Vertrauen erklärte, habe der ihm dringend geraten, das niemand weiterzusagen. Seine Leute glaubten schließlich, sie hätten es mit einem großen Psychologen zu tun.

Googles schwarze Liste

Meine Zugsbekanntschaft erzählt mir diese Geschichte nicht als peinliche Episode, sondern aus vollem Stolz. „Meine Psychologie ist eben meine eigene“, erklärt er. Dass die Russen seine selbsterworbenen Weisheiten von ihm erlernen wollen, setzt er voraus. Dass er umgekehrt auch von ihnen was aufschnappen hätte können bzw. dass sie vielleicht mehr wissen könnten als er, kommt ihm gar nicht erst in den Sinn.

Als ich am Abend wieder heimkomme, sehe ich dann im Fernsehen – zwischen den unfassbaren Bildern aus Haiti – ChinesInnen auf dem großen Firmen-Logo vor den Toren der chinesischen Google-Zentrale Blumen niederlegen, begleitet von den Worten des Korrespondenten, aus denen das schuldige Gewissen des liberalen Westens spricht, der trotz ethischen Bedenken mit der Volksrepublik Geschäfte macht.

Die schöne Stierlaterne fürs chinesische Neujahr, die uns unsere Nachbarn aus Taiwan dagelassen haben.

Robert Rotifer

Faltbare Ochsenlaterne fürs chinesische Neujahr, die uns die Nachbarn aus Taiwan dagelassen haben

Das war vorgestern Abend, und mittlerweile hab ich auch bemerkt, dass ich natürlich nicht der einzige war, der auf das neuentdeckte politische Verantwortungsbewusstsein einer Firma, die sich bisher in China so gut mit der Zensur arrangiert hatte, mit instinktiver Skepsis reagierte.

Schließlich hat Google – laut New York Times - selbsttätig schwarze Listen von unerwünschtem Content geführt und wurde laut der Londoner sogar – neben Yahoo! - vom Oppositionsführer Guo Quan mit einer Klage bedroht, nachdem sein Name in vorauseilendem Gehorsam aus den Suchresultaten gestrichen worden war.

Laut der in Berkeley, Kalifornien, produzierten China Digital Times und PEN wurde Guo Quan seither übrigens wegen Subversion zu zehn Jahren Haft verurteilt.

Immerhin konnte ich ihn heute zumindest von Großbritannien aus und in westlicher Schrift auf google.cn problemlos finden, aber Google geht aus dieser Episode nicht gerade als Schutzpatron der Oppositionellen hervor.

Wenn Gewissen sich lohnt

Wieso also plötzlich die Prinzipien?
Zugegeben, das Hacken von Gmail-Accounts ist eine Sache, die direkt Googles eigene Dienste betrifft, aber was nie zuvor Dagewesenes ist all das offenbar auch nicht. Und so manchen ist aufgefallen, dass a) Googles Entschluss, nicht mehr mitzumachen, bezeichnenderweise nur in einem englischsprachigen Blog verlautbart wurde, und b) die Suchmaschine in China trotz fünf Jahren Präsenz nur 29% Marktanteil erreicht hat - weit abgeschlagen hinter dem Konkurrenten Baidu, über den ich für meinen Teil herzlich wenig weiß, außer dass er direkten Zugang zu mp3-Files bietet und in Sachen Selbstzensur Google China noch zu übertreffen scheint. Was Baidus Beliebtheit im eher auf kommerzielle Zwecke denn auf Meinungs- und Pornographieverbreitung ausgelegten, seit 2008 bereits weltgrößten Internetmarkt offenbar keinen Abbruch tut.

Man braucht also kein großer Zyniker zu sein, um zu dem Schluss zu kommen, dass Google in Abwägung zwischen dem Imageschaden durch die Zensurmaßnahmen und dem wirtschaftlichen Nutzen seines chinesischen Abenteuers entschieden hat.

Schließlich betreibt Google grundsätzlich kein DissidentInnenforum, sondern eine kommerzielle Suchmaschine, deren Resultate in der sogenannten freien Welt zwar nicht durch Zensur, aber mittels des Herrschaftsinstruments Geld gewichtet werden.

Allein Googles Abrücken von der bisherigen Zielrichtung der Expansion um jeden Preis ist jedenfalls – geschäftlich mindestens so sehr wie politisch – ein durchaus mutiger Schritt.

Trotzdem sah ich mich sofort an meine neuliche Zugsbekanntschaft erinnert, als ich dann gestern das Editorial im Guardian las, wo von der mutmaßlichen chinesischen Hacker-Attacke und dem großen Firewall of China als "kolossaler Narretei" des Staats die Rede war. Schließlich habe China seinen "mühevoll geschnitzten Ruf als vertrauenswürdiger Partner auf der globalen wirtschaftlichen Bühne“ zu verlieren.

Es gibt tatsächlich Momente, da steht die Arroganz der Liberalen der der alten Neocons um nichts nach.

Nicht nur, dass die im selben Editorial als moralische Instanz beschworene, von billigen Konsumgütern abhängige internationale Community sich ohne Chinas Exporte längst wieder von ihrem postindustriellen Pfeifentraum verabschieden könnte (Schauen diese Leute sich eigentlich nie die Verpackungskartons der Spielzeuge ihrer Kinder oder die Etiketten ihrer eigenen Kleider an?).

Die autoritäre Struktur der chinesischen Gesellschaft war auch bisher kein Hindernis, sondern vielmehr eine der Voraussetzungen des Aufbaus von China als Herstellungsort all dessen, was sich seither nirgendwo anders mehr zu produzieren lohnt. Die Vorstellung, dass sich mit Chinas wachsender Industrialisierung notwendigerweise auch seine Gesellschaft bzw. seine Internetwelt zum Spiegelbild der unseren entwickeln wird, ist purer Wolfowitz.
Am Ende sind wir diejenigen, die mangels Sprach- und Schriftkenntnis (und, seien wir ehrlich, mangels Interesse) keine Ahnung haben, wie der weltgrößte Internetmarkt funktioniert. Ganz ohne Zensur.

Und so wie der englische Lebenscoach mit/ohne Messias-Komplex in Russland sehen wir dabei vielleicht schon ziemlich dumm aus, ohne es zu wissen.