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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

7. 1. 2010 - 17:53

Getting it wrong, Teil 5

Zur Mär von der steifen Oberlippe der britischen Bulldogge. Am Beispiel Schneefall.

Es hat sich herumgesprochen in Großbritannien, dass globale Erwärmung sich nun doch nicht in einer Verwandlung des Landes in die Toskana äußern wird. Dem Nachbarn sind die Oliven abgefroren. Eine Schande.

Ich hab im Radio was vom außergewöhnlichen Mäandern des Jetstream vernommen, das es in Griechenland so heiß und bei uns so relativ kalt macht. Das klang schon schlüssig, so für den Laien.

Verschneite Straße vor dem Haus

Robert Rotifer

Kentish morning vor meinem Fenster

Die andere, nicht auf die Luft- sondern auf die Meeresströmungen bezogene Theorie, wonach der nordwesteuropäische Ausläufer des Golfstrom schlapp machen und dem gemäßigt temperierten Großbritannien damit das ihm geographisch eigentlich zustehende nordeuropäisch bibberkalte Klima einbrocken könnte, ist zwar umstritten, fühlt sich derzeit aber auch wieder recht plausibel an.

Spürbar ist in jedem Fall, dass der Winter hier nun von jener Stufe, wo alle sich über ein bisschen Weiß und Chaos freuen, zum unerwünscht prä-apokalyptischen Ärgernis übergegangen ist.

Neulich hab ich nun auf der verschwisterten ORF-News-Seite was von der berühmten „stiff upper lip“ gelesen, mit der die Briten angeblich auf den schneebedingten Kollaps ihrer Infrastruktur reagieren.

Ich weiß nicht recht.

Nach meiner Erfahrung mit dieser Insel wäre es längst an der Zeit, sich von diesem müden Nationalklischee zu verabschieden.

Nur keine lockere Lippe riskieren

Sicher, die Leute hier scheinen sich nicht gern zu beschweren und abgesagte Züge und Flüge ohne viel Murren hinzunehmen. Aber bloß weil sie sich nicht beschweren, belegt das noch lange nicht ihre Tapferkeit, sondern eher die ebenso landestypische Scheu vor dem verbalen Konflikt (der sich notfalls lieber physisch austragen lässt).

Park & Ride-Bus im Schnee

Robert Rotifer

Unbeugsamer sommerbereifter Park & Ride-Bus im Wintersonnenschein

Was wiederum das mit dem vielzitierten Aussetzen der Lippenmimik assoziierte, stoische Durchhaltevermögen unter widrigen Umständen angeht, steckt wohl eher existenzielle Notwendigkeit, denn die eh schon dubiose Vorstellung eines kollektiven Volkscharakters dahinter.

Schließlich lässt sich fast alles, was in diesem Land passiert, am Ende auf Kröten zurückführen, und das in der Thatcher/Major/Blair-Ära konsequent demontierte Arbeitsrecht kennt wenig Gnade.

Rugbyplatz im Schnee

Robert Rotifer

Heute kein Rugby

Großarbeitgeber wie die Supermarktkette Tesco haben ihre mutmaßlich zum Blaumachen neigende Belegschaft wissen lassen, dass wetterbedingtes Fernbleiben ab sofort entweder als Urlaubstag oder als unbezahlte Absenz verbucht werde. Eingeschneite MitarbeiterInnen von Marks & Spencer sind angehalten zumindest bei der nächsten erreichbaren Filiale zum Dienst anzutreten.

Schulsperre der Rangliste zuliebe

Baum im Schnee

Robert Rotifer

Ganz anders verhält es sich da etwa bei Schulen, die nicht nur aus Angst, von den Eltern ausgerutschter Kinder verklagt zu werden, zum Zusperren neigen.

Mindestens genauso wichtig ist die Sorge um den Platz in den von der zeugungsfähigen Middle Class mit religiösem Eifer studierten School League Tables.

Welche Schule wie hoch in der jährlich veröffentlichten Rangliste liegt, wird nämlich neben den Noten ihrer SchülerInnen unter anderem auch von der Anwesenheitsstatistik bestimmt. Wenn eine Schule wetterbedingt zu hat, wird der Tag aus der Statistik gestrichen, ist aber an Schneetagen offen und die Schule schlecht besucht, gehen wertvolle Ranglistenpunkte verloren. Und die zählen mehr als alles andere.

Hecke im Schnee

Robert Rotifer

Neulich besuchten wir mit einer befreundeten Familie und deren Spross das Tunnelnetzwerk unter den Klippen von Dover, wo die britische Armee während des zweiten Weltkriegs einen strategischen Stützpunkt und ein Lazarett unterhielt. Selbst unsere für patriotische Verblendung sonst nicht so anfälligen FreundInnen bedachten die von der Führerin farbenfroh vorgebrachten Schilderungen der Evakuierung* von mehr als 338.000 1940 in Dunkerque festgesessenen Alliiertensoldaten über den Kanal mittels einer improvisierten Flotte von Booten und Schiffchen mit bewundert ausgestoßenen Beschwörungen des „British pluck“ (das Online-Wörterbuch übersetzt „pluck“ mit Schneid und Courage, aber das klingt alles viel zu deutsch und französisch, gemeint ist sowas wie eine schrullige Mischung aus Gewitztheit und Tollkühnheit).

Sehnsucht nach dem Blitzkrieg

Ich hab ihnen die Gedanken erspart, die mir dabei durch den Kopf gingen, nämlich dass ein derartiges Unternehmen im heutigen Britannien vermutlich an ungeklärten Versicherungsfragen gescheitert wäre.

So, und mit diesen Worten und dem Hinweis, dass der Gehsteig vor unserem Haus der einzige per Schaufel geräumte in ganz Canterbury ist, melde ich mich gleich beim Daily Telegraph für eine Gastkolumne zum international beliebten Thema „Warum früher alles besser war“.

Schild: Cattle Emergency
The Farmer: Telefonnummer
Cattle: Telefonnummer
Sheep: Telefonnummer

Robert Rotifer

Ich würde ja zuerst die Schafe anrufen, schauen, was die so sagen

Obwohl, vielleicht nimmt's ja eh auch der linksliberale Guardian, der in seinen Berichten übers Winterwetter heute etwa den 34-jährigen Manager eines Fitness-Centers in Petersfield zitiert, in dem gestrandete AutofahrerInnen die Nacht verbrachten:

"Thankfully, the St John's ambulance were able to get blankets and this morning the local Tesco donated juice, sandwiches and bread for toast... The spirit and camaraderie has been pretty good – there's been something of a blitz spirit.“

Ja, hurra, der Geist des guten alten Blitzkrieg, da haben alle noch zusammen gehalten, während die deutschen Bomben auf Britannien niedersausten.

Hätte mich auch gewundert, wenn dieser Anlass – so wie alle Krisen, die kurzfristig solidarisches Verhalten aufblitzen lassen - ohne einen Vergleich mit jenen bangen aber stolzen Stunden der Nation ausgekommen wäre.

Noch knorrigerer Baum

Robert Rotifer

Einstweilen trösten sich Zehntausende mit dem Konsum des idealen Nostalgiemediums Youtube und diesem wunderbaren Film aus dem letzten wirklich schweren Winter 1963, wo ganz deutlich zu sehen ist, wie die Großeltern und Eltern der heutigen Blaumacher sich damals noch stoisch tapfer für den Bahnverkehr ins Zeug zu legen pflegten. Wär heute gar nicht erlaubt, so viel Eigeninitiative.

Und falls nun jemand da draußen glauben sollte, ich übertreibe maßlos, verweise ich auf diese BBC-Online-Geschichte zum Thema Is it your civic duty to clear snow?.

Wer schaufelt, wird verklagt

Da wird erst auf die Bürgerpflicht Gehsteigräumung in Deutschland, Österreich und der Schweiz hingewiesen und dann für Großbritannien entschieden abgewunken:

Verschneiter Weg

Robert Rotifer

"It's not the case in the UK. In fact, you are taking a legal risk if you clear the pavement in front of your home, no matter how public spirited your actions are.
It's the local authority's responsibility to clear snow and ice from the public highway. By sweeping snow from one part of the pavement you can create a danger in another area and if someone is injured, you will be liable for negligence.“

Jawohl, besser Beinbruch riskieren als eine Klage wegen unautorisierter Schneeräumung. That's the "bulldog spirit", wie man hier so gerne den britischen Nationalgeist benennt.

Gestern hat in den Nachrichten übrigens ein Wirtschaftsexperte gesagt, dass das mit den 690 Millionen wirtschaftlichem Schaden pro britischem Schneetag eh nicht ganz so ernstzunehmen sei. Weil, so seine fachmännische Begründung, die Dinge, die an jenen Tagen nicht erledigt würden, eben später besorgt werden könnten.

Und genau das sind dann die Momente, wo einem die Briten plötzlich wieder unheimlich sympathisch werden.

Tudor-Haus im Schnee

Robert Rotifer

*) wie in letzter Zeit popularisiert durch Ian McEwans Atonement