Erstellt am: 3. 1. 2010 - 23:00 Uhr
Null und wichtig
von Fritz Ostermayer und Thomas Edlinger
Die Nuller-Jahre als nicht und nicht zusammenpassendes Puzzle musikalischer Welten und Gegenwelten, der großen und ganz kleinen. Aber Null und wichtig! Wir werfen 27 Schlaglichter auf Musiken, Bands, Projekte und Solokünstler, die uns im letzten Jahrzehnt wichtig genug erschienen sind, um sie hier und jetzt als Prototypen für neue und neu-codierte Ästhetiken aufmarschieren zu lassen.
Null und wichtig auch: Spex verabschiedet sich in seiner neuen Ausgabe von der klassischen Plattenrezension und ersetzt sie durch ein Stimmengewirr von gegensätzlichen Meinungen. Das ist nur konsequent in Zeiten der Auflösung von Kritiker-Instanz beziehungsweise der potentiell unendlichen Multiplikation von Kritik: Es gibt so viele Kritiker wie es Blogs gibt. Demokratie herrscht, wenn diskutiert wird, aber auch, wenn alle durcheinanderschreien und keiner mehr gehört wird. Und wenn unofficial channels dieselbe Definitionshoheit erlangen wie einstens die amtliche Verlautbarung. Denn das ist das Wunderbare an der neuen Situation der Massenbloggerei: Wir erkennen endlich, dass jeder etwas weiß, dass jeder etwas kann und dass wir von jedem etwas lernen können. Und das ist nicht nur tröstlich, sondern auch ganz schön humanistisch.
Null und wichtig: Die von uns ausgewählten, aber nicht chartsmäßig gereihten Stücke/Tracks/Namen der Nullerjahre stehen wie gesagt nicht nur für sich und die sie interpretierenden MusikerInnen, sondern für bestimmte Positionen, so abseitig und marginal manche auch erscheinen mögen. Im Gegensatz zu den mainstreamigeren Haltungen, um die wir aber auch nicht umhinkommen wollen.
Und das ist die ungeordnete Liste:
Burial: Wer hätte gedacht, dass auch eine bassnarrische, gleichwohl immer auch schon atmosphärenversessene Clubkultur wie Dubstep nur wenige Jahre braucht, um den Weg vom Dancefloor in den Ohrensessel zu schaffen. Burial, ein lange Zeit anonymer und dadurch verlässlich mythenumrankter junge Soundfetischist namens William Bevan aus Südlondon, produziert regennassen Dub Noir in Cinemasope.
Arcade Fire: Verkaufts mei Gwand, ich fahr in Himmel: Kollektive Inbrunst und ungestüme Leidenschaft, als gäbe es kein morgen. Seit „Funeral“ von 2004 ein oft kopiertes Erfolgsmodell mit Stadiontauglichkeit.
Sigur Ros: Elfenzauber aus Island, fremd und vertraut, unendlich fern und ganz nah zugleich – und manchmal überschäumend wie ein Geysir. Das Symphonische machte Schule, die erfundene Kunstsprache Hopelandish konnte niemand kopieren bzw. kapieren. Das außerhalb Islands 2000 erschienene Album „Ágætis byrjun“ kann sich als einschmeichelndste Form von Postrock auch heute noch hören lassen.
Flotation Toy Warning: Beste weltweit unterschätzteste Band der Nullerjahre. Im Sumpf heißgeliebt und wenigstens in Frankreich noch miniminibekannt ging ihr bislang einziges Album „Bluffers Guide To Flight Deck“ in ihrer englischen Heimat unter wie ein Grabstein im Toten Meer. Eine Jahrzehnt-Schande! Und das einem solchen Meisterwerk!
M.I.A.: Multikulti war gestern, Fusionküche zwischen pfeffrigen Beats und Ethno-Gewürzen ist heute. Rolemodel für gehobenen Radical Chic von Santigold bis zum Buraka Som Sistema. Und eine Jahrhundertnummer auf der Basis eines göttlichen Clash-Samples: „Paper Planes“.
LCD Soundsystem: Übercooler Postpunkdisco für die Generation I-Tunes. Und ein Song als multipler Glücksfall für James Murphy, Franz Ferdinand und den großen John Cale, dessen Version uns bis heute umhaut. „All My Friends“.
Animal Collective /Panda Bear und andere Bären: Die verhallten Pet Sounds der heutigen Kuscheltiere, infiziert mit dem derzeit wieder beliebten psychedelischem Tribalismus-Virus. Während sich das tierische Kollektiv über die Jahre auch hin und wieder verzettelte, blieb der Pandabär aus des Kollektivs Mitte ein Musterschüler und lieferte ein durchgängig wunderbares, konzentriertes Album auf der Höhe der neopsychedelischen Liebe zum verhallten Mantra ab: „Person Pitch“ hieß es.
TV On The Radio: Yes we can – Neo-Doo Wop jenseits von Schwarz und Weiß, diesseits von Soul, und Rock, Disco und Punk. Spätestens ab jetzt galt es als erzreaktionär, eine Musikrichtung einer bestimmten Hautfarbe zuzuschreiben.
Fennesz: Sehnsüchtiges Brummen und melodisches Dröhnen oder: Hilfe, meine Festplatte hat meine Gitarre geschluckt. „Endless Summer“ hieß die Beach Boys-affinste Platte des lärmgestählten Romantikers aus dem Burgenland, der mittlerweile seine Liebe zum imaginären Schwarzen Meer entdeckt hat.
Radiohead: In den 90ern waren sie uns noch wurscht: just another angegrungte Popband. Als sie dann 2000 „Kid A“ veröffentlichten und 2001 gleich drauf „Amnesiac“ gingen uns die Ohren über. In Interviews schwärmten sie damals von Fennesz und Pita und seinem Mego-Label. Seither haben die alles richtig gemacht. Und gar vielen den Weg gewiesen.
The Books: Spieldosenfolk von Soundfetischisten für Soundfetischsten. Die amerikanisch-holländische Kombination hat zwar nach einem Konzeptalbum 2006 nichts mehr von sich hören lassen, aber die 3 Alben davor zeugen allesamt von einer großen Leidenschaft für Archive und akustisches Found Footage. Wort und Musik erscheinen wie gleichberechtigte Soundelemente in dem eigentümlich patinagetränkten digitalen Folk dieses hoffentlich mittlerweile nicht schon klammheimlich verschiedenen Duos.
Clouddead: Steht für das einstens innovative Label Anticon und die Transformation von HipHop in nerdistische Soundexplorationen, wie man sie zuvor so noch nicht gehört hatte. Die drei Label- und Bandgründer Why?, Odd Nosdam und Dose One rührten auch solo in diesem Jahrzehnt einiges um und an, was Bestand haben wird.
Beirut: Ein blutjunger Hupfer aus New Mexico als Stellvertreter einer neuen Fake-Folklore, die sich um vermeintliche Tugenden wie Authentizität und Herkunft einen Dreck scherte und so herrliche Beispiele einer imaginären Pop-Folklore unters begeisterte Bobo-Volk brachte. Auch wir Alt-Bobos waren höchst angetan von Zach Condon und seinem Ein-Mann-Balkan-Feldzug.
Jamie T: Wie schon im Jahresrückblick angedeutet: das neben Mike Skinner alias The Streets lässigste Weissbrot Englands, der wie kaum ein anderer den britischen Alltag zwischen Bier und Beats zum Tanzen bringt.
Outkast: Pitchfork-Media, der Netzaufsteiger des Jahrzehnts, wählte Outkasts „B.O.B.“ zum Songs des Jahrzehnts. Wir schlagen gleich zwei Fliegen mit einer Klappe und preisen den Remix von Diplo, einem der Produzentenaufsteiger des Jahrzehnts. Credits vor allem aber für Outkasts Fähigkeit, den Hip Hop Richtung Broadway-Unterhaltungsshow zu deuten, ohne dass uns dabei der Angstschweiss der unfrommen Denkungsart aufsteigen müsste. Credits auch für die Masseneuphorie, die jedes Video von Outkast zu erzeugen imstande ist. Fast könnte man glauben, die Zukunft sei rosig. Dabei sind Outkast nur Eskapismus-Simulanten, denn „B.O.B.“ steht für „Bombs Over Bagdad“. Womit wir bei der Wahrheit des Jahrzehnts wären.
Missy Elliott: Zutodegespielte leben länger. Missy Elliott und ihr berühmtes Indien-Sample von „Get Ur Freak Out“ war ab 2001 in sämtlichen Communities von Pop präsent, sowohl in der Großraumdisco als auch im angesagten Hip-Club. Diese Frau hatte jahrelang mindestens so ein goldenes Händchen in Sachen Sound- und Beat-Findung wie ihre männlichen Kollegen Timbaland oder Nisan Stewart. Dafür ist sie heute steinreich und wir gönnen Frau Elliott jeden Cent für ihre Gabe, Glückshormone in uns auszuschütten.
Naked Lunch: Siehe Radiohead. Die alten und weltberühmten Naked Lunch der 90er gingen uns am Arsch vorbei. Seit ihrem 2004er Album „Songs For The Exhaused“ aber und allerspätestens seit „This Atom Heart Of Ours“ von 2007 lieben wir sie von ganzem Herzen. Und für die Jahrhundertnummer „Military Of the Heart“ kriegt Oliver Welter dereinst im Himmel von John Lennon höchstpersönlich einen geblasen. Ganz große Band – wann kriegen denn das endlich auch die Menschen von Übersee mit?
The Streets: Nicht nur, dass Mike Skinner 2006 den bislang längsten Videoclip von über 20 Minuten Dauer ins verdutzte MTV-Volk warf, no: mit „Dry Your Eyes“ schuf er auch die Blaupause für eine unpeinliche Slow-Motion-Variante von HipHop-Romantik, die bei anderen leicht ins Auge gehen konnte, bei The Streets aber zu einem Monument von einem Song geriet. Auch so ein Vereiniger der gegensätzlichsten Welten. Wer da nicht weich geworden ist, hatte sein Herz wahrscheinlich schon in der nächsten Kloake entsorgt.
Phosphorescent: Ein kleiner Hausheiliger des Sumpfes, im Rest der Welt viel zu wenig geschätzt und gewürdigt. Sein heuer erschienenes Coverversionsalbum „To Willie“ als Hommage an Willie Nelson war nicht der große Wurf, aber seine vier weiteren LPs, alle aus den Nullerjahren, machen ihn zum legtimen Nachfolger von Will Oldham und mehr. Außerdem gibt Matthew Houck im Alleingang die schönsten Kirchenchöre seit der Erfindung der Mehrspurtechnik.
Xiu Xiu: Experiment und Hysterie. Überempfindliche Nervenkunst und für Pop leicht gewagte Anleihen bei der so genannten Neuen E-Musik. Jamie Stewart und seine Xiu Xiu gingen in den Nullerjahren weiter als viele selbsternannte Avantgardisten und landeten bei Elfriede Jelinek. Konsequent in Form und Inhalt.
Dan Deacon: Immer das richtig falsche Zusammendenken und dann brachial comichaft noch eins draufsetzen. Das ist das Prinzip Dan Deacon. Der Keyboard-Akkumulierer aus Baltimore begann 2003 mit Billig-Kistln und landete heuer mit „Bromst“ bei einem stattlichen Ensemble, das auch ein Steve Reich nicht verschmähen würde. Dazwischen lag 2007 das Superalbum „Spiderman Of The Rings“, auf dem er Brian Eno mit Tick, Trick und Track kreuzte, was den verspieltesten Tanzbodenfeger des Jahres gebar: „Wham City“.
Dark Meat: Ein Sturm im Wasserglas! Aber was für einer: „Universal Indians“ von 2006. Ein Album wie ein Terrorkommando, gebildet aus den Zellen Stooges, Albert Ayler und versprengten Kraut-Truppen. Mehr als 20 Musikerinnen und Musiker blasen dir den Marsch der rasenden Unbändigkeit. Auch die: viel zu wenig gewürdigt draußen in der bösen Welt. Bei uns war es das Album des Jahres 2006.
Marnie Stern: Die Frau, die mit ihrem wahnsinnigen finger-tapping Van Halen beschämte, einer Gitarrentechnik, die in anderen Kontexten zum allerwiderlichsten Inventar schwanzistischer Metaller gehört. Bei Marie Stern dient er sowohl der Intensivierung als auch als dekonstruktivistisches Zitat. Denn Mösenmetal – diese Erfindung blieb uns auch in den Nullerjahren erspart. Noch immer ein tolles Album mit elendslangem Titel: “This Is It and I Am It and You Are It and So Is That and He Is It and She Is It and It Is It and That Is That.” Erschienen ist es 2008.
Carla Bozulich: Egal in welchen Konstellationen – ob mit den Leuten aus dem Constellation-Records-Umfeld oder mit ihren kalifornischen Prog-Kolleginnen: Carla Bozulich arbeitet konsequent an einer Ausformulierung dessen, was Intensität bei gleichzeitiger Avanciertheit der Mittel heute noch vermitteln kann. Sie kann mit einigem Recht als die Diamanda Galas der Nullerjahre durchgehen, auch wenn der Vergleich ein depperter ist. Trotzdem stimmen die Eckpfeiler. Und die heißen Härte und Zärtlichkeit.
The Walkmen: Die Walkmen machen das, was Bob Dylan gemacht hätte, wenn er wirklich für immer jung geblieben wäre. Schön zu überprüfen auf dem wunderbaren Album „A Hundred Miles Off“ und allen anderen davor.
Flying Lotus: Illbient nannte man ähnlich kranken Stoff auf Breakbeat-Basis eine Zeitlang. Der hinter dem Projekt stehende Kalifornier Stephen Ellison ist DJ, HipHop-Produzent und Elektronikfrickler, und die Lust an der Verstopfung der Dancefloor-Funktionalität mit komischen Geräuschen ist Flying Lotus deutlich anzumerken. Flying Lotus bringt dem HipHop das Stolpern neu bei, während irgendwo in den Untiefen der Archive und Sampler noch die Versprechungen warmer, analoger Stehbässe und Vocals lauern: anschnallen und vorwärts in die alte Zeit, als die Bewusstseinserweiterung mittels Musik und anderer Drogen noch geholfen hat.
Ricardo Villalobos: Autorentechno vom Allerfeinsten. Der chilenischstämmige und seit langem in Deutschland wirkende Ricardo hat sich nie gescheut, das Subjekt verneinende Terrain Techno mit Mythen und Erzählungen von Subjekten aufzuladen: mit Kinderchören, Environmental Soundscapes und Blasmusik seiner Heimat. Diesem Mann sollten endlich Dissertationen gewidmet werden. Nicht nur für sein 37minütiges Opus Magnum „Fizheuer Zieheuer“, dessen Titel allein uns schon vor Verzückung aufjauchzen lässt und das noch einmal zusammenführt, was im letzten Jahrzehnt so oft auseinanderbrach: Diskurs und Pop, Wissen und Fortschritt, Hirn und Ei ... Himmelarsch und Zwirn. Amen./Ric