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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

22. 11. 2009 - 15:00

Die Sprache des Boulevards (2)

Genialer Kult

Den Begriff des Genies gänzlich ohne Ironie zu verwenden, ist bedenklich. Das Menschengeschlecht hat schon zu viel Aufklärung am Buckel, um noch ernsthaft an eine vollendende Schaffenskraft zu glauben, die der Heiland mal beiläufig in ein paar auserlesene Wiegen legt. Dichter und Denker kann und darf jeder sein, die Wege zur geistigen Leistung sind von mehr oder weniger massivem Geröll gesäumt, dieses wird aber von vielen Faktoren und nicht nur vom Schicksal platziert.

Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass deshalb jeder drittklassige Witze-Aneinanderreiher aus dem Simpl genial ist.
Die deutsche Sprache ist steinreich an Vokabeln für die positive Beurteilung künstlerischer Arbeiten und deren Schöpfer. Ein Buch kann ebenso scharfsinnig, erquicklich, kunstvoll, grandios, eindrucksvoll, köstlich und und und und nochmals und sein wie ein Lied oder ein Film. Illustrierten-Rezensionen und Gratiszeitungs-3-Zeilen-Ankündigungen verzichten aber, wohl einem ominösen Geheimpakt Folge leistend, zugunsten von „genial“ seit Jahren auf all die genialen Adjektive, die es sonst noch gäbe.

Schmökert man in den Kommentaren zu als lustig geltenden Videos auf youtube, unterscheiden sich diese Postings oft nur durch Nutzernamen und den Zeitpunkt, zu dem sie verfasst wurden. Der Inhalt deckt sich gänzlich und besteht einzig aus dem Urteil „Genial!“.

Es ist schön, wenn sich Sprache weiterentwickelt, und viel öfter, als es die Bastian Sicks dieser Welt erlauben wollen, sind sogenannte „neudeutsche“ Begriffe eine Bereicherung und nicht der Untergang des Abendlands. Nicht bereichernd ist es dagegen, mit einem einzigen unpassenden und einem längst verjährten Denken entspringenden Begriff unzählige andere zu ersetzen. Denn in den meisten Fällen, dieser Wortwitz sei mir bitte bitte verziehen, ist genial daneben.

marc carnal

Noch nicht einmal Kult, doch endlich öffentlich zugänglich - Das Ron Tyler Archiv

'Genial Daneben' ist ja Kult. Zu Kult wird mittlerweile automatisch alles Geniale mit einer Überlebensdauer von plus vier Monaten. Hier hat der Mainstream ein Wort gestohlen und damit im Sprachschatz des Undergrounds Schaden angerichtet.

Helge Schneider wird beispielsweise gerne mit dem Etikett Kult versehen. Als der an sich wunderbare Komiker (Stehsatz: „Und er ist auch ein genialer Musiker“) noch als singende Herrentorte vor zwei Dutzend Verehrern auf Kellerbühnen spielte, mag die Gunst der wenigen Schneider-Liebhaber kultischen Charakter gehabt haben, weil da ein kleiner, verschworener Kreis etwas Einzigartiges für sich entdeckt hatte und zelebrierte. Heute spielt Helge Schneider vor tausenden Zusehern. Seine Darbietungen sind nach wie vor virtuos, aber tatsächlicher Kult verträgt sich nicht mit Stadthallen.

Sollte ich nun zufällig auf einen genialen, verkannten Spontan-Schüttelreimer stoßen und ihm von nun an mit blinder Begeisterung zu jedem Poetry Slam nachreisen, wo ich immer wieder die selben Personen treffe, die ebenfalls für die wunderbare Ad Hoc-Dichtung schwärmen und ganz froh sind, dass sie mit ihrem Idol nach dem Auftritt Bier trinken können und ihn noch nicht an Talkshows verloren haben, das wäre ein deftiger Kult, den wir da um den flotten Geheim-Goethe treiben würden. Ein neues Wort müssten wir allerdings trotzdem dafür finden, denn das eigentlich passende haben Michael Mittermeier und Tokio Hotel entlehnt.