Erstellt am: 14. 10. 2009 - 15:03 Uhr
It doesn't make much sense
Ich habe Glück. Nach vier Tagen erwische ich Aaron Chapman telefonisch zwischen Tür und Angel. Im Hintergrund klappert und rumpelt es. Instrumente werden im Bus verstaut, denn die Nurses treten ihre Tour durch die Staaten an. Schwere und unhandliche Gitarrenverstärker sind nicht dabei, ebenso das Drumkit ist nur in einer extrem rudimentären Ausstattung vorhanden. Ein Sampler wird zwischen verschiedene Percussion-Teile gesteckt und ein altes Keyboard muss auch noch Platz finden. Mehr braucht das Trio nicht, um ihren weirden Folkpop auf die Bühne zu bringen.
Die Zeit drängt. Wenn es jedoch um ihr neues Album "Apple's Acre" geht, dann nimmt sich Aaron gerne eine halbe Stunde, um über den neuen Sound, den langen Entstehungsprozess, seine neue Heimat Portland, das Universum und den ganzen Rest zu reden.

Nilina Mason-Campbell
Wenn der Dachboden ächzt
Als sich Sänger und Gitarrist Aaron Chapman und Multiinstrumentalist John Bowers in ihrer Heimat Idaho zusammentun, um Musik zu machen, wird noch im klassischen Bandformat gerockt. Eine sonnige Platte, aufgenommen in Kalifornien und eine Durststrecke in Chicago später landen die beiden Musiker in Portland, Oregon. Dort treffen sie auf den Percussionisten James Mitchell und laden ihn ein auf einem alten Dachboden eines viktorianischen Häuschens an ihren neuen Songs zu arbeiten. "Apple's Acre" hat also schon viele Meilen am Buckel. Auch auf textlicher Ebene geht es um das rastlose Umherziehen und die Frage, was "Heimat" eigentlich bedeutet.

Nurses
Aaron: "Diese Übergangsphase, in der wir viel gereist sind, dauerte ganze fünf Jahre. Das hat natürlich das Album geformt. Eigentlich haben wir in Idaho im Keller meines Elternhauses angefangen recht spontan mit einem Laptop kleine Songskizzen aufzunehmen. Von da an haben wir unseren Computer immer wieder an verschiedenen Stellen unserer Reise aufgebaut. Vieles entstand auch in Portland, als wir das Album auf dem Dachboden fertigproduziert haben."
In den Songs der Nurses ächzen die Balken des Dachbodens, da scheinen alte Eisentüren zu quitschen und der Wind durchs Gebälk zu pfeifen. Alles klingt sehr unmittelbar, nahe, trocken, knöchern und organisch. Es wird auf kleinen Trommeln geklopft, ein rostiges Tambourin scheppert im hintersten Eck des Raums, während das staubige Klavier eine simple Kindermelodie spielt. Über allem schraubt sich Aaron Chapmans eindringliche, kratzende Stimme in ungeahnte Höhen, wenn "Man At Arms" besungen werden.

Paul Wagenblast
Vom Universum, weißen Löchern...
Das Klappern einer alten Waschmaschine scheint ebenso inspirativ für den Sound gewesen zu sein, wie das ratternde Heckrad eines Mississippi Dampfers. Irgendwo zwischen Handklatschen und schrägen Keyboardtönen blitzt immer wieder eine Akustikgitarre auf, nur um dann wieder im hölzernen, kollektiven Lo-Fi-Rhythmus zu verschwinden. "Orange Cymbals", der Abschlusssong des neuen Nurses Albums verlangt viel von unseren Hörgewohnheiten, dafür gibt er wie alle übrigen Nummern auch viel zurück. Der recht abstrakte Sound lässt Platz für Inspiration, Interpretation und Bilder, die von unkonventionellen Songstrukturen getriggert plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen.
Neben dem eigenwilligen Klang und verschrobenem Arrangement, sind es vor allem Aarons Bilder, die er in die Musik einfließen lässt.

Greg Aune
Aaron: "John und ich reden oft über fiktionale Landschaften, die wir im Kopf haben. Wir malen sie uns aus und tauschen unsere Vorstellungen untereinander aus. In gewisser Weise versuchen wir uns das Universum vorzustellen. Nachdem man das allerdings schlecht erklären kann, versuchen wir mit unseren Songs diese Vorstellungen zu vermitteln. Seien es konkrete Bilder oder auch nur verschiedene Farben. Macht das für dich einen Sinn?"
Wirklich Sinn macht es nicht, aber für die Hintertür hat Aaron schon in den ersten Sekunden des Albums gesorgt, sind doch die ersten Zeilen der Eröffnungsstücks "Technicolor":
It doesn't make much sense / Oh I doesn't make much sense.

Gleen
Das scheint nicht nur für die Platte programmatisch zu sein, sondern auch für Bühnenauftritte und den Entstehungsprozess von Songs zu gelten. Ein Augenzwinkern kann man sich dabei jederzeit dazudenken. Denn Aarons Gehirn funktioniert auf eine witzige Art und Weise. In "Bright Ideas" scheint es darum zu gehen, den Kopf für Sonderbares und Kosmisches zu freizuhalten. Welche gute Idee Aaron wohl in letzter Zeit hatte? Darauf angesprochen muss er lachen und nach kurzem Zögern folgt auch promt eine kuriose Antwort.
Aaron: "Hm, meine klügste Idee in letzter Zeit? Lass mich nachdenken. Ich glaube das war die Idee von weißen Löchern. Sie sind der Ursprung der Inspiration und liegen auf der anderen Seite von schwarzen Löchern."
... japanischen Kinderserien und dem ganzen Rest
Ein dumpfer Ton eines Keyboards, ein kurzes Flattern eines Streichersamples und schon Pfeifen die Nurses im Song "Caterpillar Playground" gemeinsam eine Melodie, die der Maus vom Mars den grünen Neid auf die gelben Bäckchen treiben könnte. Unbekümmert scheinen Aaron, John und James über ihren eigenen, swingenden Beat zu stolpern, "ploppen" mit dem Finger im Mund und trällern ihre gute Laune zu schräg hüpfenden Keyboardsounds. Gerade diese Nummer ist das beste Beispiel für den verspielten und auch kindlichen Zugang, den die Nurses pfegen, wenn es darum geht, ihren Klangexperimenten freien Lauf zu lassen.
Und der Titeltrack "Apple's Acre" bedient sich zu Beginn und am Ende ein paar Sekunden einer Kennmelodie, die aus einer japanischen Kinderserie stammt. In Pitagora Suichi sollen Kinder dazu angehalten werden, kreativ "um die Ecke" zu denken. Und so findet sich in jeder Ausgabe Variationen von der Rube Goldberg Machine, einer komplexen Apperatur, die für ein ganz simples Manöver gebaut wurde, wie zum Beispiel eine Kugel von einem Ort zum anderen zu befördern.
Genau diese Machine scheinen die Nurses in folkige Popsongs übersetzt zu haben. Bei all diesen kindlichen Referenzen ist es wichtig nicht zu übersehen, dass die scheinbare Leichtigkeit des Albums durchaus einen schweren Ursprung hatte.
Aaron. "Manche sagen, dass die Musik recht naiv klingt. Vielleicht tut sie das auch. Für uns kam das spielerische Element daher, dass wir davor eine sehr schwierige, dunkle Lebensphase hatten. Als wir über diese Phase hinweg waren, haben wir erst mal tief ausgeatmet und uns in dieses kindliche Universum fallen lassen. Aber ich möchte nicht, dass die Leute übersehen, dass dieses Album eigentlich auf einer recht dunklen Basis aufgebaut wurde. Und gerade dieses Wechselspiel ist das Spannende an der Platte."

Nurses
Die Nurses haben ein faszinierendes, schräges, schillerndes und eigenwilliges Folkpopalbum geschaffen. Die textliche und musikalische Abstraktion macht es möglich, dass bei jedem eigene Bilder im Kopf auftauchen, während Aaron, John und Mitchell spontan und mit Spaß experimentieren. Hat man erst einmal seinen Weg in die verquere Welt der Nurses gefunden, so kann man es sich dort trotz aller Ecken und Kanten gemütlich machen.