Erstellt am: 26. 7. 2009 - 08:05 Uhr
Chatham Child
Bringen wir die Aufzählung der falschen Gründe für die Fama des Billy Childish rasch hinter uns: Ja, er wurde von Kurt Cobain, Beck, Graham Coxon und Jack White als wesentlicher Einfluss zitiert und hat sich mit letzterem spektakulär überworfen (eine Nacherzählung des Konflikts, bei dem es um angeblich hoffnunsglose arme Garagenrocker, Schnurrbartqualitäten und Hutsammlungen ging, würde hier leider den Rahmen sprengen).

Robert Rotifer
Ja, er war mit Tracey Emin zusammen, und in ihrem berühmten (mittlerweile bei einem Lagerbrand vernichteten), mit den Namen ehemaliger Liebhaber bestickten Zelt, besonders prominent lesbar. Nur einer von vielen Gründen, warum er sich mit ihr und der gesamten BritArt/Conceptual Art-Gesellschaft spektakulär überworfen hat.
Es stimmt schon, Archive From 1959 – The Billy Childish Story ist grundsätzlich ein Update der 2002 erschienenen Karriere-Comp "25 years of being childish", aber immerhin hat Childish seither mit den MBEs einige seiner stärksten Songs veröffentlicht.
Was diese Doppel-CD/Dreifach-LP zum ganz seltenen Fall einer nach vorn deutenden Retrospektive macht.
Zu den wesentlicheren Gründen, ihn zu kennen und zu schätzen, zählen die 51 Songs, die anlässlich seines 50. Geburtstags aus seinen über 120 Alben auf der neuen Compilation "Archive from 1959 - The Billy Childish Story" zusammengetragen wurden, darunter Material seiner wichtigsten Bands The Milkshakes, Thee Mighty Caesars, Thee Headcoats, The Buff Medways und The Musicians of the British Empire (MBEs), Demos seiner Punkcombo The Pop Rivets aus dem Jahre ’77, aber auch vergleichsweise periphärer Projekte wie der Chatham Singers oder der Girlband The Delmonas.

Robert Rotifer
Im breiten Fächer der aus der ersten Welle des britischen Punk hervorgegangenen, schillernden Figuren, ist Childish ganz außen bei den militanten Traditionalisten zu finden. Das gilt übrigens auch für sein Schaffen als Dichter oder (selbstverständlich figurativer) Maler.
Welche Art von außen, also rechts oder links, ist hier keine gültige Kategorie, denn gerade in britischen (Sub)Kulturen war das Wertekonservative bei der Herstellung der nötigen Reibungsenergie immer schon mindestens genauso wichtig wie das, was sich als progressiv zu begreifen beliebt.
Sicher, sein Wettern gegen die selbstgefällige Konzeptkünstlerclique der BritArt-Generation ließe sich als populistisch kunstfeindliches Gezeter eines verbitterten Leider-nicht-Millionärs abtun. Aber selbst damit läge er im moralischen Wettstreit noch sehr weit vor Charles Saatchi und seiner Seilschaft.
The Politics of Art Hate
"can it be possible that it is at all heroic to ’resist’ art? in some cases, yes it can . such a time comes when the distinction between fine art and high finance has become so foggy and moribound that one has eaten and consumed the other leaving only a bludless husk", heißt es im orthographisch typisch zwanglosen Manifest der British Art Resistance, der jüngsten "Non Organisation" des Billy Childish, gemäß seiner neodadaistischen "Art Hate"-Antikunst-Ideologie.
1. Good taste is fascism. "Either all are special or none."
2. It is the artist's responsibility to smash style.
3. Artistic talent is the only obstacle.
4. We must embrace the unacceptable in all spheres.
Die ersten vier von 12 Punkten der Hangman Communication 0001, 7.7.1997

Robert Rotifer
Doch hinter seiner Polemik steht nicht nur ein wendiger Intellekt, sondern vor allem das, was Billy Childish selbst seinen "very good sense of humour" nennt.
Zu den Produkten der British Art Resistance gehören etwa (der im Zweiten Weltkrieg aus Freiwilligen zusammengewürfelten Home Guard entliehene) B.A.R.-Armschleifen, die sich zwar im Webshop kaufen lassen, die aber "for display only2 und "NOT for use in the field" bestimmt sind.
Ein klassisches Beispiel für jenen Witz, der auch Songs wie "Thatcher's Children", "What's Wrong With Me" davor bewahrt, zu bloßen Vehikeln des tiefen Zorns zu werden, der sie zweifellos antreibt.

Robert Rotifer
Um zu verstehen, wo Letzterer herkommt, hilft ein Besuch in seinem Heimatort Chatham am Fluss Medway im Norden von Kent, jener sinnentleerten Militär- und Schiffahrtsindustriearbeiterstadt, wo der als Steven Hamper geborene Billy einst als Steinmetzlehrling seine eigene Hand mit dem Hammer zertrümmerte, um aus der für ihn vorgesehenen Laufbahn als "dockyard fodder" auszubrechen.
Wo er Anfang der Achtziger seinen eigenen Vater zusammenschlug, als der von einem Gefängnisaufenthalt wegen eines schiefgelaufenen Drogendeals zurück nach Hause kam.
Wo sich seit dem zweiten Weltkrieg die Stadtplaner mangels Widerspruch einer nicht existenten Bourgeoisie ausgetobt haben, indem sie etwa einen großen Teil des Stadtzentrums durch mehrspurige Straßenkarussels und ein an menschenverachtender Monströsität seinem realsatirischen Namen "Pentagon" mehr als gerecht werdendes Einkaufszentrum ersetzten.
Wo Billy Childish und seine Handvoll Gefährten unter Gebrauch ihrer vielen Alter Egos eine - selbstironisch gern "The Medway Delta" genannte - kleine Welt der kompromisslos praktizierten Sixties Trash/Garagenbeat-Ästhetik aufbauten, deren Wirken weite Kreise ziehen sollte (siehe eingangs erwähnte Liste prominenter Fans).
The original chav
Solcherlei Dinge, aber auch die tiefen Widersprüche in seinem Lebensbild, das Echte im Gespielten, die Malerei als Lebensunterhalt, Margaret Thatcher, die viktorianischen Wurzeln des Punk, der Ursprung des Wortes "Chav", die unterdrückten Aggressionen des Guardian-Lesers, die Notwendigkeit des Hassens um zu Lieben und noch einiges mehr kam vorige Woche in meinem Interview mit Billy in seinem kleinen Reihenhaus in Chatham zur Sprache.
Ausgewählte Passagen dieses außerordentlich anregenden Gesprächs gehen am kommenden Montag, 27.7., ab 22 Uhr in FM4 Heartbeat zwischen Kostproben aus dem "Archive from 1959"-Sampler auf Sendung.
Cowboys are square – Indians are best!

Robert Rotifer