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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

18. 7. 2009 - 14:43

Country Life

"Kent's bestest music festival" mit Edwyn Collins, Wild Beasts, Gong, die Wave Pictures, Billy Childish, The Invisible und äh... mir.

Wenn sie einem schon ein Festival nebenan hinstellen, kann man eigentlich nicht nicht hingehen - zumal das bisschen selber Spielen einem das Eintrittsgeld erspart.

Lounge on the Farm-Gelände

Robert Rotifer

Lounge in the Farm am Rande von Canterbury ist eines der vielen, seit ein paar Jahren schwer kommenden, sogenannten "boutique festivals", die sich durch eine gewisse Überschaubarkeit auszeichnen, die das Treffen befreundeter Leute ohne elektronische Krücken ermöglicht.

Village Green-Schild

Robert Rotifer

Und durch ein Food Village, in dessen Gerüchen sich mindestens vier Kontinente vereinen, ohne ein einziges Konzernlogo in Sicht, bzw. - wo sie schon gerade T in The Park im Fernsehen übertragen - garantiert ohne Lady Gaga, die Manic fucking Street Preachers, die abominablen Snow Patrol oder bloody Pendulum, die allesamt ohne Zweifel von manchen hier sehr geschätzt werden, und es sei euch von ganzem Herzen vergönnt, genauso wie mir die Freude, endlich einmal The Invisible live zu erleben.

The Invisible bei Lounge on the Farm

Robert Rotifer

The Invisible

Wenngleich die Magie ihres Debütalbums sich bei diesem - vor circa 80 verstreuten ZuhörerInnen abgespulten - Auftritt nur an jenen Stellen erahnen lässt, wo sie sich ihrer großen Stärke des mehrstimmigen Gesangs besinnen.

Die pflichtgemäße Einlage, wo sonst nicht dazu berufene Bandmitglieder vor lauter rhythmischer Entrückung spontan aufs Schlagzeug eindreschen, beherrschen dagegen andere wie z.B. die Ferdis schon wesentlich überzeugender. Und wer die spezielle Prince-Telecaster umschnallt, setzt sein Geigen unvorteilhaften direkten Vergleichen aus.

Wild Beasts bei Lounge on the Farm

Robert Rotifer

Wild Beasts

Trotzdem bleiben The Invisible eine Band zum grundsätzlichen Dafürsein, ebenso wie die Wild Beasts, deren interessanter Fallsettwahnsinn-mit-Zwischenkriegsharmonien-Seite hier leider zu Gunsten ihrer melodramatischer-Achtziger-Indie-Rock-Seite ein wenig zu kurz kommt.
In "Devil's Crayon" findet die Band irgendwo im Zusammenspiel der beiden zickigen Gitarren die nächste Warp-Stufe, und am Ende bedanken sich die gar nicht so wilden Tiere dann noch höflich für die Geduld des Publikums, weil sie gar so viel vom neuen Album "Two Dancers" gespielt haben.

Leute bei Lounge on the Farm

Robert Rotifer

Nein, nicht notwendig! Wo bleibt die wunderbare Arroganz von "Limbo, Panto"? Damals wußten wir schließlich auch nicht, was uns erwartet.

Selbiges kann freilich auch für alte Bands gelten. Ganz alte wie Gong zum Beispiel. Vor dem Gig boxen sich neben mir ein paar 16- bis 18-jährige vor lauter Vorfreude gegenseitig mit dem Ellbogen in den Bauch: "Boys, we're about to see one of the best bands ever."

Gong bei Lounge on the Farm

Robert Rotifer

Gong

Meine vorsorgliche Besorgnis, dass das Leben sie enttäuschen wird, legt sich bald. Zwar kommen bei Gong wie befürchtet in einer verirrten Fortführung hippiesken Technologiefimmels kopf- und corpuslose Steinberger-Gitarren zum Einsatz (bei Steven Hillage und Daevid Allen), aber es tut gut, sich daran erinnern zu lassen, dass Prog Rock auf seine Weise eigentlich die reinste Party-Musik war.

Die frankophonen Projektionen ("Camembert Electrique") weisen indessen sanft darauf hin, dass Gong, obwohl entstehungstechnisch der Canterbury Scene zugeordnet, eigentlich ein Produkt von Daevid Allens nicht ganz freiwilligem französischen Exil sind/waren.

Zur Erklärung: Daevid Allen war jener australische Beatnik, der nach seiner wilden Pariser Zeit mit William Burroughs und Terry Riley Mitte der Sechziger als Untermieter bei der Familie Wyatt in Lydden, zwischen Dover und Canterbury, einzog, deren Sohn Robert zum Free Jazz verführte und in Folge mit ihm The Soft Machine gründete.

Die zu den ausufernden Improvisationen und punktgenauen Breaks bzw. Gilli Smyths Beschwörungen vollführten wilden Tänze der jungen Menschen auf Neuentdeckungszeitreise kontrastieren hier wunderbar mit den heidnischen Körperlichkeitsritualen in Ponchos gehüllter Originalhippies in ihren mittleren Sechzigern. Und da und dort schaut ein langhaariger Rentner ein bisschen verärgert drein, wenn er von den jungen angerempelt wird, bis er sich daran erinnert, wie das früher einmal bei ihm selber war.

Was den 71-jährigen Daevid Allen anlangt, der jedes komplexe Arrangement, jeden Einsatz und alle Texte meistert, und in seinem "No one knows I'm a Lesbian"-T-Shirt trotz des weißen Haars einen überzeugend fitten Eindruck macht, kann ich nur den Schluss ziehen, dass massiver Drogenkonsum offenbar doch jung hält (nein, natürlich nicht...).

Wenig vielversprechend in Hinblick auf das kommende neue (!) Gong-Album "2023" klingt der neue Song "Digital Girl", schon wesentlich besser der nur als Prog-Punk zu bezeichnende Sound von "Wacky Baccy Banker".

Dave Tattersall beim Solieren

Robert Rotifer

Dave von den Wave Pictures

Nebst dem zweiten Auftritt von Lokalheroen Cocos Lovers (ich habe berichtet) hat der nächste Tag dann unter anderem ein Wiedersehen mit den Wave Pictures gebracht.

Dave Tattersall, der einzige Indie-Schrummel-Gitarrist, der derart beiläufig Richard Thompsons Fingerpicking und Tom Verlaines Solierkunst beherrscht, hat sich zu einem fabelhaften Alleinunterhalter entwickelt.

Spontane Pointen über das von Temper Trap geborgte Equipment, Bassist Frans vernudelte Soli und sonstige Randbemerkungen, die ihm anderswo schon Faustwatschen seiner Bandkollegen eingebracht haben, sprühen nur so vor demselben spontanen Witz wie seine aus Langeweile über die eigene Fingerfertigkeit nach Selbstsabotage schielenden Gitarrencodas am Ende jedes Songs (und trösten über die mehr als nachlässige, schwer enttäuschende Wave Pictures-Version von "Racing in the Street" auf dem neuen Bruce Springsteen-Tribute "Play Some Pool Skip Some School Act Real Cool" hinweg).

Temper Trap im Zelt

Robert Rotifer

Temper Trap

Die Leute rund um mich können übrigens schon erstaunlich viele Texte auswendig, nicht nur den mit der Skulptur aus Marmelade.

Die Verstärker hatten sich die Wave Pictures wie gesagt von Temper Trap ausgeborgt, und selbst wenn ich mit deren vom intensiven Bemühen um Kompensation eines hyperaktiven Begehrens nach Berühmtheit beseeltem Sound sonst weniger anfangen kann: Live fährt das schon enorm.

Nurse Julie, Billy Childish

Robert Rotifer

MBEs

Tags darauf sind wir, nachdem ich mich selbst mit meiner Band ein bisschen produzieren durfte, in die Cowshed zu Billy Childish und seinen Musicians of the British Empire gepilgert.

Es war das erste Mal, dass ich Nurse Julie live am Bass beim Bewahren der steifen Oberlippe bewundern durfte, während ihr Mann seinen verdienten Zorn durch seine Original-Sixties-PA in die Welt hinaus schickte.

Mehr über den heuer 50 gewordenen Lokalmatador aus dem von Canterbury nicht allzu weit entfernten Docker- und Soldatenslum Chatham - inklusive Interview - demnächst hier bzw. in meiner Sendung nächsten (also nicht kommenden) Montag.

Edwyn Collins auf der Bühne

Robert Rotifer

Edwyn (was heißt da, ich soll mir endlich eine bessere Digitalkamera kaufen, ist eh schon schlimm genug, dass ich mich euretwegen überhaupt mit Knipsen aufhalte, statt zuzuhören. Eben.)

Man könnte den Organisatoren von Lounge on the Farm vorwerfen, dass dem von ihnen gebuchten, bunt gemischten Haufen an Bands, die gerade den Festivalzirkus runterrattern, jegliche thematische Kohärenz fehlt, aber zynisch sind sie sicher nicht.

Sonst hätten sie nicht den - in seiner Kunst, nicht seinem Massenappeal - großen Edwyn Collins zum Headliner gemacht, der dann vor erschütternd schütterer Kulisse (man ist schon mehrheitlich ein bisschen ignorant, unten in Kent) ein ganz wunderbares Set spielte.

Edwyn geht es besser, seit er vor viereinhalb Jahren knapp dem Tod entgangen ist. Er geht mit Stock auf die Bühne, sitzt auf einem Flightcase und hat einen Notenständer neben sich stehen, von dem er die Texte abliest.

Seine Bühnenansagen zeugen von den Schwierigkeiten, die ihm die Artikulation seiner Gedanken immer noch macht, aber neben den Hits ("Falling And Laughing", "Rip It Up", "Blueboy", "A Girl Like You", "What Presence"...) spielen er und seine - auch ohne Paul Cook und Roddy Frame hervorragende - Band auch zwei neue Songs:

"I'm Losing Sleep" heißt der eine, den Titel des anderen hab ich vergessen, aber er handelt von der Schwierigkeit, sich zu sammeln und endlich wieder einen neuen Song zu schreiben.

Die völlige Abwesenheit von Metaphernwut des süffisanten alten Edwyn, die selbst die Selbstentlarvungslyrik seines letzten Prä-Hirnblutungsalbums "Home Again" durchzog, macht diese Songs - auf eine keineswegs nach Mitleid heischende Weise - umso berührender.

Wir kaufen uns noch ein Biobauern-Hog Roast mit Apfelsauce, gehen vollkommen benommen unter Sternen zurück zum Feld, wo die Autos parken, und ich schicke Fritz ein SMS: "Holt Edwyn nach Wien!"