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Marc Carnal

Wer sich weit aus dem Fenster lehnt, hat die bessere Luft. Lach- und Sachgeschichten in Schönschrift.

23. 8. 2009 - 15:00

Kleine Gesprächs-Fibel (2)

Mama

Viele Kleinanleger und Jungunternehmer sind in Zeiten wie diesen verunsichert und fragen sich: "Wie pflegen ÖBB-Schaffnerinnen eigentlich ihre Kunden zu wecken?". Lange wusste ich keine passende Antwort. Das hat sich vor zwei Wochen geändert, als ich mit dem Zug nach Salzburg reiste, um meine Eltern zu besuchen. Der zweite Teil unserer kleinen Gesprächs-Fibel führt uns zu folgendem

Problem

Wir sind vor Jahren von zu Hause ausgezogen, haben einiges an Bachelor- und Praktika-Irrsinn hinter uns, gehen Sonntags mit einem relativ sehr duften Lebensabschnittspartner ins Programmkino, sind schon mal "für ein halbes Jahr im Ausland" gewesen und verstehen uns mit dem Steuerberater privat auch recht gut.
Unsere Kindheit finden wir im Nachhinein eigentlich eh recht schön, das Verhältnis zu den Eltern ist viel besser geworden, seit wir ausgezogen sind, Pubertät, naja, das gehört dazu, ach damals, als wir länger als erlaubt Boogie-Woogie getanzt haben und dann die erzieherischen Sanktionen missinterpretiert haben. Alles Schnee von gestern.

Endlich da! Zu Hause! Ein dickes Zwickerbussi für la Mama und sich dann von Papa kräftig drücken lassen. Was, du hast extra für mich gekocht, um diese Zeit?! Du bist die beste Mama die wo gibt von der ganzen Welt!!!
Ach, ich nehme erst mal nur ein Wasser. Jaja, ich bleib bis Freitag. Am Mittwoch ist das Klassentreffen, ja genau.

Wir bekommen Erlesenes kredenzt, verbreiten uns dann darüber, "wie es so geht" und "was sonst so los ist" und sinken dann freudenreich in die Daunen.

Doch im mittlerweile als Gäste-/Bügel-/Abstell- teilumfunktionierten Kinderzimmer aufzuwachen ist schon weniger entspannend als das wohlige Eindruseln einige Stunden zuvor. Am Frühstückstisch steht nur noch ein Teller, auf dem eingraviert zu sein scheint: "Benütz mich doch, aber in einer Stunde gibt es schon Mittagessen!". Zu ebendiesem sind wir noch ungeduscht, wir helfen beim Tischdecken, wo wir bereits den ersten Fehler begehen, weil wir beispielsweise dem jeweiligen Trunk nicht die laut Knigge korrekte Schale zuzuordnen in der Lage sind ("Hab ich dir denn gar nichts beigebracht?")

Serviert wird das Essen mit dem am inflationärsten verwendeten mütterlichen Gag-Evergreen. Seit wir denken können, wurden alles Essbare stets mit dem Wort "Raubtierfütterung!" gereicht. War nie lustig, wird nie lustig sein, wird trotzdem nie aussterben. (siehe auch: "Hier sieht es aus wie bei den Hottentotten", "Kalt kochen kann ich nicht", "Und wenn der Karli von einer Brücke springt,...")

Schon nach dem ersten Mittagessen zu Hause gewinnt die ganze Chose an Zähflüssigkeit. Die Mutter besteht auf die gemeinsame Einnahme von Kaffee, Kuchen, Sekt und wieder Kaffee, auf Mithilfe bei allen möglichen Haushaltstätigkeiten und in besonderen Härtefällen gar auf Abendaktivitäten ("Die Gertrud will dich unbedingt mal kennen lernen.").

famileienfoto

marc carnal

Flankiert werden die gemeinsamen Stunden zunehmend mit jeder folgenden von gewissen Fragen...

  • "Aber ihr seid schon noch zusammen, oder?"
  • "Hast du das mit der Versicherung jetzt endlich erledigt?"
  • "Mit dem Manfred hast du gar keinen Kontakt mehr?"
  • "Wie viel rauchst du denn pro Tag?"
  • "Sind das deine einzigen Schuhe?"

...und dem unermesslichen Fundus mütterlicher Fachrhetorik:

  • "Bitte gib mir eine normale Antwort."
  • "Das sagst du nur, um mich zu provozieren."
  • "Tu mir einen Gefallen und zieh dir einen Pullover an, mir zuliebe."
  • "Woher soll ich denn das wissen? Du erzählst mir ja nie was."
  • "Was hab ich nur falsch gemacht?"

Die Stimmung wird zusehends naturtrüb. Jedes Thema und jeder einzelne Satz mutet mehr und mehr wie ein einziges Zitat aus längst vergangen geglaubten Zeiten an. Jeder Atemzug wird wahlweise als Drohung, Vorwurf, Gemeinheit oder Respektlosigkeit gedeutet und in doppelter Intensität retourniert. Entweder wird der handfeste Streit durch das zeitgerechte Verlassen von Räumen vermieden oder er findet doch statt, gefolgt von der familienspezifischen Versöhnungszeremonie.

Das Fazit nach fünf Tagen Heimaturlaub ist deprimierend: Erheblicher Energieverlust, beidseitiger Nervenverschleiß, in schlimmen Fällen gar Lähmungserscheinungen, Thrombose, Schwächegefühl, Benommenheit, Schwindel, Haarausfall, Lymphadenopathie, Osteopathie, Immunglobulinmangel oder das Lyell-Syndrom.

Lösung:
Gibt es keine.
Über zwei Jahrzehnte ein Kind aufzuziehen, bindet erheblich. Für die eigenen Eltern kann man wohl nie vollends erwachsen oder eigenständig werden. Dann wäre man ja kein Kind mehr, was einen bitteren Verlust darstellen würde. Umgekehrt werden auch die Eltern immer die Eltern bleiben. Jene z.B. verschrobenen, peinlichen, spießigen oder idiotischen Menschen, die wir doch so lieben. Beide Seiten können sich noch so bemühen, sie werden - mehr oder weniger - doch über kurz oder lang in ihre Rollen zurückfallen. Man wird sich gegenseitig nie verstehen und teilweise furchtbar finden, sich streiten und kritisieren.
Eine wirkliche Lösung hält dieses Kapitel der Gesprächs-Fibel nicht bereit. Höchstens den Versuch, die Tatsache zu akzeptieren und entspannt damit umzugehen, dass sich in diesem Fall Grundlegendes nie ändern wird. Und in Wahrheit ist es doch wesentlich harmloser, für Lapalien kritisiert und werden, als in wesentlicheren Belangen keine Akzeptanz zu finden. Es ist im Grunde doch ein schöner Trost, sich bei all den Reibereien ins Gedächtnis zu rufen, dass Mütter und Väter, selbstverständlich in Abwesenheit des Protagonisten, immer wieder gerne betonen, wie stolz sie doch auf ihn seien. (Und sie meinen das meistens ernst).

P.S.:
Wie pflegen denn nun ÖBB-Schaffnerinnen ihre Kunden zu wecken?
Sie klopfen mit Zeige- und Mittelfinger auf den nackten Unterarm des Fahrgastes und machen dabei "Hu-hu, hu-hu, hu-hu!"