Erstellt am: 4. 7. 2009 - 21:31 Uhr
It really really really could happen (again)
Nun waren wir also am Freitag noch einmal dort. Es war ursprünglich ja nicht so vorgesehen gewesen, aber dann waren der Partie von Freunden/Bekannten/Noch-nicht-Bekannten, die aus Österreich angereist gekommen war, zwei abhanden gekommen, und das war unmöglich anders denn als ein Zeichen zu deuten.
Natürlich konnte das zweite Mal nicht ganz so magisch sein wie das erste, und bei allem spürbaren Enthusiasmus hab ich den dumpfen Verdacht, der Band ging es auch ein klein wenig so. Zumindest wirkten sie einen Deut weniger verblüfft als am Donnerstagabend über den Anblick des Menschenmeers, gegen das sie anspielten.
Das leichte Abklingen der ersten Trance hat jedenfalls den Blick auf ein paar Kleinigkeiten geklärt, die beim gestrigen Review unter den Tisch gefallen sind:
1) Smoggie!
Ein oft nicht beachteter, durchaus redlicher Grund dafür, warum große Bands manchmal einfach nicht Schluss machen können, ist, dass so ein Schritt auch immer das Ende eines etablierten Familienbetriebs darstellt, an dem dann ganz schön viele Arbeitsplätze hängen. Insofern war es schön zu sehen, dass bestimmte Leute aus der alten Blur-Crew jetzt ihren alten Job wiederhaben. Wie zum Beispiel jener Baum von einem Mann mit den dicken Brillen, den sie "Smoggie" rufen (so nennt man normalerweise Middlesbrough-Fans bzw. Leute von der Teesside, ich dachte aber eigentlich dieser Smoggie kommt aus Leicester, egal) und der heute wie damals Damon bei seinen Ausflügen in die Menge beschützt.
Die Frage bleibt: Wovon hat Smoggie in der Zwischenzeit gelebt?

Robert Rotifer

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2) Erratum
Es waren nicht - wie gestern geschrieben - drei, sondern vier BackingvokalistInnen, und das Sirenengeheul vom Megaphon kam nicht - wie gestern behauptet - durch Feedback zustande, sondern durch Bedienung eines Zusatzsirenenknopfs. Wie praktisch.
Außerdem benützte Damon sein Megaphon gestern auch noch für ein "safety announcement" in bestem Bürokratenenglisch: Die Leute da vorne an der Absperrung sollten sich nicht zu wild vergnügen, "cause you know we don't like that sort of thing." Und wenn sie sich schon vergnügten, "then do it more gently. It's only for your own safety".
Das war natürlich eine halb ironische, halb ernsthafte Ansage, aber ein ungehaltener Herr hinter mir sagte gleich: "Oh no, listen to this. He's terrible. And I'd been defending him!"
Die Lektion daraus: Es ist gar nicht so lange her, da galt es als volkstümlich, Damon nicht zu mögen, weil er so ein Schlauberger ist und in England "being clever" eines der schlimmsten Schimpfwörter überhaupt darstellt. Die Liebe solcher Leute (der Herr hinter mir tanzte und sang danach eh gleich wieder heftig mit) ist launisch und kann auch bald wieder auf die nächsten zehn Jahre vergehen.

Robert Rotifer

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3.) The smell of a party
Wenn man es beim besten Willen einfach nicht schafft, zu der "ganz vorn beim Stadtplan, direkt vor den Speakers" stehenden, aus Österreich angereisten Partie vorzudringen, die einem aus circa zehn Metern Entfernung zugewunken hat ("und jetzt streck nur einen Finger hoch... Ja, ich seh dich!"), dann sagt das schon was über die in Dringlichkeit gedrängte Dichte der vom prallen Sommersonnenschein, aromatisch duftenden Rauchwaren, Schweißgeruch und Bier in grünen Plastikflaschen benebelten, gen Bühne geneigten Versammlung aus.

Robert Rotifer
4.) "And neither of us can think straight anymore"
Gestern bin ich übrigens die Zielgruppenanalyse schuldig geblieben. Also: Vorwiegend, aber bei weitem nicht homogen weiß, Alter ziemlich ausgeglichen zwischen 15 und 40, ebenso relativ ausgeglichen männlich/weiblich, selbst wenn das auf dem untenstehenden Bild zugegebenermaßen nicht so aussieht (aber die Frauen sind eben auch mehrheitlich kleiner und im Gedränge weniger sichtbar, was zumindest jene in unserer Umgebung im Verlauf der Show durch besonders selbstbewusstes Schubsen und Niederwalzen aller Umstehenden wettzumachen wussten).

Robert Rotifer
5.) "I wear them every day, there's no particular reason to change"
Die Bandmitglieder waren gewissermaßen als Blur kostümiert.
Will sagen:
Damon und Dave trugen Perry-Shirts so wie früher ("Now that Murray is out of Wimbledon we are left as the only official sponsors of Fred Perry in this city", scherzte Damon - eher umgekehrt, oder?). Und Graham ist zu seinem Spätneunziger-Look zurückgekehrt: Weite Levi's unter der Gürtellinie, 2nd Hand-T-Shirt mit Schriftzug, bei weitem nicht so smart wie auf Solopfaden. Auch seine Bühnengestik ist bei Blur eine ganz andere, in diesem Kontext ist er wieder der schelmische Rabauke neben Papa Damon, eine Rolle, die er sichtlich genießt.

Robert Rotifer

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6.) Der Hintergedanke an die Konserve
Es ist ein kleiner Preis, den es sich für die Leidenschaft und das Spielvergnügen dieser Reunion allemal zu zahlen lohnt, aber beim zweiten Mal kann man dann unter all der Perfektion doch auch die paar ein klein bisschen unrunden Stellen erkennen, die verraten, dass diese Band immer noch dabei ist, sich wieder zu finden:
In "Advert" sind Graham und Damon sich zum Beispiel nicht ganz einig, wann Takt Nummer 16 des Mittelteils erreicht ist, anderswo setzt Alex früher ein und hört später auf als vorgesehen, und Graham wechselt während des Instrumental-Breaks in "Trimm Trabb" von der Akustischen auf die Elektrische.
Statt dem erlösenden lauten Einsatz kommt zuerst gar nichts - offenbar das alte Problem mit der losen Telecaster-Buchse. Und falls soeben allen NichtgitarristInnen beim Lesen die Füße eingeschlafen sein sollten, komm ich noch schnell zum Punkt:
Graham, der daraufhin am Boden liegend, mit zugekniffenen Augen und gefletschten Zähnen die Coda mit noch mehr ekstatischem Lärm bedeckt als am Abend zuvor, schrubbelt nach dem Ende des Songs noch einmal verärgert die Saiten. Solche Sachen spielen schließlich eine Rolle, wenn Mitschnitte der Shows als CDs und MP3s über die Band-Website verkauft werden bzw. gezählte acht Kameras für eine Live-DVD mitfilmen.

Robert Rotifer

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7.) "Say something, say something else!"
Letzteres war wohl auch mit ein Grund für die an beiden Abenden identische Setlist. Und wenn man bedenkt, dass Blur für diese Konzerte ursprünglich ihr gesamtes gemeinsames Album-Repertoire eingeprobt hatten, war das - unbescheiden gesagt - eigentlich schade. Ich hätte zu gern gewusst, wie etwa "Blue Jeans" oder das im East Anglian Railway Museum auf Publikumswunsch dargebotene "Essex Dogs" geklungen hätten.
8.) Spoiler Alert
Wo wir beim Thema Spontaeität sind: Der Fluch von Youtube und der TV-Übertragung aus Glastonbury vom letzten Wochenende war, dass das Publikum teils schon im vorhinein wusste, was passieren würde.
Schön ist das, wenn alle - so als wär's nie anders gewesen - in "End of the Century" mitsingen "and the mind gets dirty, as you get closer to FIFTY" (statt "thirty", Anm. für die, die's nicht kennen).

Robert Rotifer
Zur verdorbenen Überraschung wird's dagegen, wenn der langsame, nackte Schlagzeugbeat, der nach und nach an Tempo gewinnen und sich erst mit dem Gitarreneinsatz schließlich als "Song Two" entpuppen soll, von der (zu) gut vorbereiteten Menge schon nach den ersten paar Takten mit einem lauten "Woo Hoo" begrüßt wird.
9.) Das große Straußenei
Noch nie war ich bei einem Gig, wo derart viele Leute rund um mich einander beschworen haben, wie "brilliant", wie "incredible", wie viel "mehr als nur ein Konzert" (ein österreichisches Pärchen direkt hinter uns beim Rausgehen) das gerade Gesehene gewesen sei.
Sowas lässt sich natürlich nicht wiederholen. Blur wissen wohl, dass sie sich mit diesem Triumph paradoxerweise auch ein ganz ein großes Straußenei gelegt haben: Wohin jetzt? Wieder aufhören geht nicht. Dazu macht die Sache allen Beteiligten zu viel Spaß.
Aber zum gemeinsamen Altwerden war das alte Blur-Konzept der ständigen Veränderung auch wieder nicht geschaffen. Das sieht schwierig aus. Könnte aber auch wieder ganz einfach werden, sobald einmal ein paar neue Songs geschrieben sind.
10.) "Love's the greatest thing"
Wäre ich noch einmal hingegangen, wenn sie heute Abend wieder gespielt hätten? Sowieso.