Erstellt am: 20. 6. 2009 - 16:09 Uhr
Germany's Next Top Festival ...
Es ist jedes Jahr ähnlich. Mit Vorfreude auf das bevorstehende Lineup steige ich frisch ins Auto. Nach über 700 Kilometern und über acht Stunden auf hauptächlich deutscher Autobahn - die Länge der Verkehrsdurchsagen im Radio entsprechen der von epischen Post-Kraut-Rock Hymnen - erreiche ich wie gerädert Neuhausen Ob Eck. Und als die erste Band am aufgelassenen Flugfeld zu spielen beginnt, bestätigen sich meine Erwartungen für das Southside 2009: Trotz zehntausender Fans kann man hier viele intime Musikmomente erleben und neue Entdeckungen machen.
Zwar stehen die großen Headliner immer ganz oben, egal ob auf Plakaten oder auf der Prioritätenlisten der Publikumsmasse, jedoch bietet vor allem das Zelt, die Red Stage, dieses Jahr eine vielzahl von Bands, die nicht über einen riesigen Bekanntheitsgrad verfügen und eher die Musikliebhaber ansprechen. Während also Less Than Jake auf der gegenüberliegenden Hauptbühne mit ohrenbetäubender Lautstärke alles niederbrettern, offenbart sich ein paar hundert Leuten der erste Geheimtipp.
Gitarrenwände und Monster unter dem Bett
Erst kürzlich vor der Abreise habe ich über die Norweger Alexandria Quartett und ihr vor vor einiger Zeit erschienenes, selbstbetiteltes Debüt eine Rezension gelesen, die nur Positives von der gefühlvollen Band berichtete. Schon allein die Stimme von Sänger Martin Skålnes berührt durch ihr besonderes Timbre, das eigentlich so gar nicht zu seiner Buddy Holly-Brille passen will. Auffallend ist der Hang des Quartetts zu chromatischen Akkordfolgen, die sowohl an Post-Rock erinnern als auch wie Hippie-eske Ausflüge anmuten. Sehr tight und knackig präsentieren die vier Norweger ihre durchwegs poppigen Songs, bei denen sich sogar ein Monster unter dem Bett in ein über ihm schlafendes Mädchen verlieben kann, wenn ich den Text richtig mitbekommen habe. Nach dem Live-Gig ist auf alle Fälle das Interesse geweckt, sich die Studioaufnahmen der nördlichen Herrn zu Gemüte zu führen. Und das ist ja schon mal ein Erfolg.

Andreas Gstettner
Eine andere, um vieles heftigere Schiene fährt die nachfolgende Combo. Aus dem sonnigen Californien surfen auf einer riesigen Noisewelle die Silversun Pickups ins verregnete Süddeutschland. Der dichte und sehr brachiale Sound wird nur von der manchmal krächzenden, manchmal gut geölten Stimme Brian Auberts übertönt, die sehr weit im Vordergrund steht. Während die Gitarrenwände über das Zeltpublikum hereinbrechen (wobei mir immer noch unverständlich ist, wie man mit nur einer Gitarre einen derartigen wall-of-sound kreieren kann) gräbt sich der Bass von Nikki Monninger tief in die Magengrube. Die Bassistin trägt viel zu der charmanten Bühnenpräsenz bei, die im Kontrast zu dem ausufernd wilden Sound steht.
Radio FM4
Brian und Nikki lächeln und bedanken sich in einer Tour, überwältigt vom lautem Applaus und Mitgehüpfe. Ganz dem musikalischen Stile verhaftet ist Schlagzeuger Christopher Guanlao, was seine physische Expression betrifft. Noch nie habe ich einen Drummer gesehen, der sein Crash-Becken auf knapp zwei Meter hängen hat, sodass er nur mit voll nach oben ausgestrecktem Arm den Stick auf das Blech krachen lassen kann. Wahrlich akrobatisch!
Lieber lange Bärte statt Bauchnabel Pop
Aus dem Zelt tritt man wieder in die Welt der großen Bühnen, auf der gerade gegenüber die Engländerin Lilly Allen zwischen elektronisch angehauchten Pop und etwas falchem Rock hin und her pendelt.

Oetzmann
Frau Allen scheint aber nicht nur mich wenig zu überzeugen. Die Traube vor der grünen Bühne ist merklich geschrupft und selbst der Bauchnabeltanz bringt das Festivalpublikum nicht so richtig auf Touren. Das brav vorgetragene "Fuck You" erntet hingegen Applaus, wobei das Stück davor, in dem sich die Popsängerin mehr Schlecht als Recht dem Kaiser Chiefs Hit "Oh My God" bedient, nicht zu den Stimmungsgipfelstürmen gehört hat. Und selbst der beginnende, feine Nieselregen, der alle bis auf die Knochen durchnässt, hat da wenig schuld daran.
Denn ein paar Meter weiter liefern die Fleet Foxes ein erfrischendes Set ab, bei dem sich alles recht heimelig anfühlt. Klar, für eine Band aus Seattle gehört die Nässe bei Open Airs zum Grundbestandteil einer Performance, trotzdem kann Keyboarder Casey Westcott nicht umhin, anzumerken, welch schönes Farbenspiel die bunten Regenjacken von der Bühne aus ergeben. Die im Wind wallenden Rauschebärte von Sänger Robin Pecknold und Schlagzeuger Joshua Tillman sind eine Augenweide, ebenso wie Joshuas witzige Mimik, mit der er seine Kumpanen beobachtet. Der sehr organische und akustische Klang, die perkussive Rhythmik und die Holzfällerhemden verbinden sich mit den im Regen tanzenden Grüppchen zu einer Art Woodstock-Stimmung. "No rain, no rain..."
Kein Keane-Fall vor fetten Beats
Es ist schon einige Jahre her, dass ich Keane am FM4 Frequency gesehen habe, den Regen trotzend vor der Bühne stehend, da mir der sehr luftige Klavierpop damals gut gefallen hat. Doch 2009 präsentieren sich die zu einer richtigen Live-Band angewachsenen Engländer lange nicht mehr so transparent und zurückhaltend.
Radio FM4
Dem tonangebendem Klavier haben sich Bass und Gitarre dazugesellt, auf Samples und Loops wird manchmal verzichtet, dafür aber versucht, mit Gestik der Musik mehr Ausdruck zu verleihen. Doch auch dieses Konzept geht nicht ganz auf, denn große Gesten auf der Bühne verstärken nicht zwangsläufig die Emotion beim Zuschauer, sondern haben den Effekt, als würde die Band versuchen, damit ihre eigenen Gefühle bei der tausensten Live-Show aktivieren zu wollen. Vielleicht gehe ich mit den Jungs um Sänger Tom Chaplin zu hart ins Gericht, aber irgendwie scheint Keane die perfekte Symmetrie verloren zu haben.
Die danach voll auf Anschlag gehenden Fettes Brot wiederum legten eine souveräne Live-Show hin. Wie zu erwarten. Und während die fetten Hip Hop Beats über die Köpfe hinweg knallen, bricht die Sonne durch die Wolken und lässt uns einen versöhnlich stimmenden Sonnenuntergangskitschhimmel über dem Flugfeld von Neuhausen genießen. Bevor es heißt: Ab in die Dunkelheit!
Elektroclash-Sirtaki
Nicht nur meine Liebe zu Manchester lässt mich über eine Stunde im heißen Zelt ausharren, in dem Kondenzwasser von oben aus dem Nichts zu tropfen scheint. Der Elektro-Clash Overkill von The Whip beweist einmal mehr, dass dieser mittlerweile schon wieder totgesagte Stil immer noch einen unglaublichen Magnetismus auslösen kann, der einen Festivalauftritt in einen schweißtreibenden Clubgig verwandeln kann.
Radio FM4
Der verzerrte Bass, die flirrenden Synthiemelodien, die sich zu kreischenden, orgastischen Feedbacks hochschrauben, Stroboskopgewitter (nichts für Epileptiker, by the way) und schrille Gitarrenriffs, unbändiges und doch extrem exaktes Schlagzeugspiel, gepaart mit im Ohr hängenbleibenden Einzeilern, das sind The Whip live. Und sie haben Spaß, wie man an den vier grinsenden Gesichtern erkennen kann. Jeder Song von "X Mark Destination" wird durchgepeitscht, da bleibt keine Zeit zum Entspannen. Auch ein paar neue Stücke werden präsentiert, ebenso leidenschaftlich wie das furiose Schlussmonster "Trash" dass sich zu einem elektronischen Sirtaki entwickelt. Ein starkes Stück aus "Madchester".
Radio FM4
Friendly Workout und der alte Meister
Sie stammen vom Speckgürtel Londons und versprühen eine derartig gebündelte Energie, dass nicht nur Sänger Ed Macfarlane in extatische Tanzbewegungen ausbricht. Das gesamte Zelt brodelt um halb ein Uhr nachts, denn die Friendly Fires wissen genau, wie man eine Party rockt.
Radio FM4
Man nehme einen exorbitant schnell groovenden und treibenden Schlagzeuger, positioniere ihn ganz vorne auf der Bühne, hole sich einen Bassisten, der zusätzlich mit allen möglichen Percussions den Beat würzt, lasse einen Gitarristen mit allen möglichen Effektpedalen schöne, flächige Soundteppiche weben und stelle der Band noch einen Trompeter und einen Saxophonisten zur Seite.
Radio FM4
Die größte Show liefert natürlich Schlagenmensch Macfarlane höchst persönlich. Die gummiartigen Windungen seines Körpers werden mit erstauntem Lachen und Nachahmungsversuchen gutiert. Rastlos verbiegt sich der Friendly Fires Sänger und pausiert nur, um unendlich viele Flaschen Mineralwasser seine Kehle hinunter stürzen zu lassen. Auch ein schöner Effekt: Im Takt schlägt sich Ed mit der linken Hand auf den Hinterkopf und mit der Rechten klopft er ein paar Mal mit dem Mikrophon gegen seine Stirn. Das ist Festivaleinsatz, bitte sehr!
Ein wahrhaftig schönes Kontrastprogramm zu der "besten Band der Welt", wie sich die Ärzte selbst betiteln. Während bei den Friendly Fires Luftballons in Herzform und Seifenblasen durch die Luft fliegen, regnet es bei der großen Bühne Plastikbecher, allerdings für einen guten Zweck. Trotzdem passte das Bild irgendwie. Ihre Respektsbekundung für den auf der Nebenbühne startenden Nick Cave hören dann nur mehr die Hälfte der Besucher, denn die andere hat sich schon zu einem riesigen Menschenstrom verwandelt, der sich langsam aber unaufhaltsam zur blauen Bühne wälzt. Dort werden alle, die den tiefen Temperaturen und der Nässe trotzen, mit einem furiosen und schönen Konzert belohnt, das nur durch ein technisches Gebrechen kurz gestört werden kann.

Kliebhan
Und selbst wenn Nick Cave mit Augenzwinkern auf die deutsche Technik schimpft, ist ihm niemand böse. Schließlich beweist er am South Side 2009, dass man sich auch als großer Star eine unglaubliche Präsenz erhalten und Emotionen auch ohne übertriebene Gesten wecken kann.