Erstellt am: 16. 6. 2009 - 15:33 Uhr
Journal For Plague Lovers
Die walisische Band Manic Street Preachers ist ein einziges Kuriosum. Unberechenbar pendelnd zwischen Drama, Tragik und Komödie. Zwischen Hitparade und Noiserock. Mal reinkarnieren sie im Britpop, mal im Hardrock. Ihre Karriere ist eine atemlose Fahrt, es gibt nur Höhen oder Tiefen bei den Manics. Wobei kreativ waren es fast immer nur Höhen, privat aber werden die Manic Street Preachersvon Tragödien heimgesucht. Dominiert wird die Geschichte der Manic Street Preachersvon dem rätselhaften Verschwinden ihres ersten Gitarristen, Texters und Chefideologen Richey Edwards. Der wurde in den frühen 90ern vor allem durch eine spektakuläre Selbstverstümmelung in der Öffentlichkeit berühmt als er sich mit einer Rasierklinge 4 real in seinen Unterarm schnitt, als er skeptisch auf seine gesellschaftskritischen Texte angesprochen wurde.

Manic Street Preachers
The Intense Humming Of Evil
1994 erschien "The Holy Bible". Der kreative Höhepunkt und gleichzeitig Zenit der Band. "The Holy Bible" erschien mitten im Grunge-Dschungel und im Kurt Cobain-Sterbejahr, atmet die damalige Stimmung, tut jedoch im Unterschied zur damalig herkömmlichen Rockkost richtig weh. "The Holy Bible" ist ein Konzeptalbum über die Unvollkommenheit Mensch. Chefideologe und Gitarrist Richey Edwards schreibt für dieses Album Texte, die einem gallig die Kehle hintunerrinnen. Vernichtende Gesellschaftskritik – abwechselnd kämpferisch und resignierend. Und die zerreißende Angst und Pein eines manisch Depressiven. Richey und Bassist Nicky Wire schreiben sich um ihr Leben, die restlichen Manics vertonen die Texte, Sänger James Dean Bradfield singt manchmal merklich unwohl diese Texte aus der Hölle. Doch der Exorzismus schlägt fehl.
Der Zustand von Richey Edwards verschlechtert sich, bis er 1995 plötzlich spurlos verschwindet. Selbstmord wie bei seinem Idol Kurt Cobain ist sehr plausibel. Die Manics fallen in ein sprachloses Koma. Thematisieren aber das Verschwinden ihres Freundes und feiern die größten kommerziellen Erfolge ihres Lebens.
Archives Of Pain
Seit dem Schicksalsjahr 1995 sind die Manic Street Preachersnicht mehr dieselben. Eine geschwächte, immer verwundete Band. Und jetzt 2009 trauen sich die Manics ihre offene Wunde endlich zu versorgen. Und wie es sich für sie gehört, nicht vorsichtig mit der Pinzette, sondern mit Rasierklingen. Die verbliebenen drei Manic Street Preachers haben das Erbe von Richey Edwards vertont. Die Texte, die Edwards für das Manics-Album schrieb, das dann nie erschien.
The more I see, the less I scream,
The figure eight inside out is infinity
The naked light bulb is always on
They make your break complete
Then they blow it to kingdom come

Manic Street Preachers
"Journal For Plague Lovers" geht inhaltlich den einzig möglichen Schritt nach dem Inferno von "The Holy Bible" weiter. Die politischen Betrachtungen treten in den Hintergrund und der Fokus wird fast ausschließlich auf das Innere gerichtet. Texte einer verzweifelten Seele, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat. Dumpfe Zeilen, in denen der Hauch von Erlösung durch Auflösung zu finden ist. Das ganze Album liest sich wie ein Abschiedsbrief. Aber da Richey Edwards kein lustloser Mensch war, gehen die Manics auf "Journal For Plague Lovers" mit ihrem typischen Hang zum Glamour unter.
She Bathed Herself In A Bath Of Bleach
She'd walk on broken glass for love
She thought burnt skin would please her lover
To keep love alive and lust beside
Kind people should never be treated like...
Textlich, thematisch ist "Journal For Plague Lovers" also wirklich die Fortsetzung und gleichzeitig die Auflösung der Infernoplatte "Holy Bible". Wie haben die Manics aber die musikalische Umsetzung der heiklen Texte ihres ehemaligen Gitarristen und Bandchefs Richey Edwards gelöst? Genauso wie schon im Jahr 1994. Edwards war für sein bedingtes Können an der Gitarre bekannt. Angeblich ist er sogar nur mit sehr wenigen Tönen auf den frühen Manics-Alben zu hören. Richey war immer für den Text, für das Image, für die Politik der Band verantwortlich. Die Musik oblag schon immer zum größten Teil Sänger und Gitarrist James Dean Bradfield und Drummer Sean Moore. Und so haben die Manics eben einfach an alte Traditionen angeknüpft. Und die fundamentalen Lyrics in ihren typischen frühen Sound aus Ruppigkeit und Melodie gebettet.
Love bathed her in a bath of bleach
"I brought you here, no one else will"
Don't hurt her anymore, stop now
But salmon pink skin memories took care of...

Manic Street Preachers
Um die Reise in die Vergangenheit auch ästhetisch abzurunden, hat man die englische Malerin Jenny Saville beauftragt, das Cover zu gestalten. Saville war schon für das legendäre Cover von "The Holy Bible" verantwortlich. Sie beschreitet mit ihren oft hässlichen Porträts ähnliche ästhetische Wege wie die Manic Street Preachers. Für das neue Cover hat sie ein androgynes blutverschmiertes Kindergesicht gemalt und evoziert damit Assoziationen an Richey Edwards. "Journal For Plague Lovers" ist eine konsequent Zeitgeist-ignorierende und damit altmodische Platte. Wie ein konservierter Gruß aus einer Zeit vor W-Lan und Handy. Aber seelische Qualen sind ja nicht an den technischen Fortschritt gebunden.