Erstellt am: 29. 5. 2009 - 11:36 Uhr
Mein Körper, mein Feind
Susanne ist eine kleine, sehr zierliche Person. Wir sitzen in ihrer Küche und sie erzählt mir und meiner Kamera von einem Leben mit einer Gehbehinderung, die ihre ganze Jugend schmerzhaft beeinflusst hat. Nicht zuletzt wegen vieler Spitalsaufenthalte und schwerer Operationen, nach denen Susanne auf die Pflege des Personals angewiesen war. "Ich habe irgendwann aufgehört zu essen, weil es das einzige war, was ich noch selbst bestimmen konnte. Die Nahrungsverweigerung war die einzige Kontrolle, die ich noch über meinen Körper hatte."
Ich denke oft an diesen Satz. Susanne entwickelte eine schwere Essstörung. Sie sagt, dass sie diese heute überwunden hat. Ihr kleiner, so zerbrechlich wirkender Körper wird sich noch lange nicht davon erholen.

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Frauenkörper ohne Arsch
Seit ich kein Auto mehr habe und meine Wege zu Fuß oder mit Straßen- und U-Bahn zurücklege, habe ich mehr Zeit, zu schauen. Ich kann oft nicht anders, als den Blick standhaft an einen Mädchen- oder Frauenkörper zu heften, dessen Oberschenkel in den Ärmel meiner Jacke passen. Ich kann mich nicht an Frauenkörper gewöhnen, die keinen Arsch und keine Hüften haben, und in Jeans stecken, die man in der Kinderabteilung kauft. Mich machen diese Frauen traurig. Und das blöde Argument: Manche verbrennen halt besser als andere, das ist Veranlagung - kann ich nicht mehr hören. Wer glaubt so einen Unsinn?!
Ich habe es nicht gesehen
Eine gute Freundin, die ich seit nun fast zwanzig Jahren kenne, hat in den letzten Jahren ziemlich abgenommen. Gut siehst du aus, hieß es von allen Seiten. Kurze Röcke, schmale Jeans, kein Bauch. Vor zwei Jahren erzählt sie mir zögerlich, in Andeutungen, nach und nach, dass sie seit Jahren jede Nacht aufwacht, dass sie in einem Heißhungeranfall den Kühlschrank leert. Dass diese Nahrungsmittel schließlich wieder ausgekotzt werden, ist das Ende der Rechnung.
Dass ich über viele Jahre nichts bemerkt habe, nie einen Gedanken daran hatte, dass sie eine Essstörung hat! Wie belastend muss das für sie gewesen sein, nicht nur mit der Essstörung zu leben, die den Alltag so bestimmt, sondern auch mit niemanden darüber sprechen zu können. Die Gründe, die dazu geführt haben, sind vielschichtig und auch nicht so einfach zu ändern. Ein langer Weg, der an deiner Basis rührt.
Was wissen wir über die Ursachen
Wodurch Essstörungen wie Magersucht, Ess-Brechsucht und Fettleibigkeit ausgelöst werden, ist derzeit nur zum Teil bekannt. "Wir kennen gewisse allgemeine Risikofaktoren wie reduziertes Selbstwertgefühl, Depressionen, eine perfektionistische Persönlichkeit, hohe Erwartungen der Eltern, ein schlechtes soziales Netzwerk (wenig Freunde) oder auch sexueller Missbrauch", sagt Univ.-Prof. Andreas Karwautz, Leiter der Ambulanz für Essstörungen bei Jugendlichen am Wiener AKH. "Welche im Besonderen für Essstörungen entscheidend sind, wissen wir derzeit noch nicht ausreichend."

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Das Wiener AKH ist in eine große EU-Studie eingebunden, mit deren Hilfe die auslösenden Faktoren von Essstörungen erforscht werden sollen: Erstmals werden genetische und Umweltfaktoren gemeinsam untersucht und die Zusammenhänge analysiert.
"Wir suchen dafür Schwesternpaare, von denen eine oder beide Frauen an einer Essstörung gelitten haben oder noch leiden", sagt Karwautz. Die Ergebnisse dieser Studie könnten für die Vorbeugung von Essstörungen große Bedeutung haben: "Je genauer wir die entscheidenden Risikofaktoren kennen, umso genauer können Präventionsprogramme und Therapien darauf abgestimmt werden."
Barbara erzählt ihre Geschichte im Jugendzimmer
30% der jungen Mädchen in Österreich zeigen ein abnormales Essverhalten und drei bis fünf Prozent der jungen Frauen leiden an Ess-Störungen wie Magersucht (Anorexie) oder Ess-Brechsucht (Bulimie). Magersucht ist eine der schwersten psychischen Krankheiten, die auch die Angehörigen enorm belastet. Im Gegensatz zur Ess-Brechsucht spielt bei der Entstehung der Magersucht das via Medien transportierte Körperbild kaum eine Rolle.
Mit 14 Jahren erkrankte Barbara Gratzer an Bulimie und schließlich an Magersucht. Im Jugendzimmer wird sie heute erzählen, warum sie eine Selbsthilfegruppe gegründet hat und warum sie nicht müde wird, zehn Jahre später mit anderen über ihre damalige Krankheit zu reden.
Infos zum Thema
Zu erreichen werktags Mo-Do von 12-17 Uhr unter 0800 20 11 20
Barbara Gratzer: "Die Selbsthilfegruppe für Frauen mit Essstörungen (Magersucht, Bulimie, Binge Eating), leite ich seit September letzten Jahres. Die ausschlaggebenden Gründe dafür waren einerseits, dass ich sechs Jahre lang selbst die Erfahrung machte, essgestört zu sein (ich war Bulimikerin und hatte nachher Anorexie), andererseits wollte ich meine Erlebnisse nicht vergraben und vergessen, nachdem ich es aus der Essstörung heraus geschafft hatte. Ich wollte möglichst viele Menschen über die Missverständnisse aufklären, die während und durch eine Sucht entstehen, ich wollte trösten und ein Beispiel dafür sein, dass es auch einen Weg heraus gibt. Und ich bin nicht die einzige, die es geschafft hat. Seit ich in die Öffentlichkeit getreten bin, sprechen mich immer mehr ehemalige Betroffene oder deren Angehörige an und erzählen mir, wie sie es selbst geschafft haben, diese Sucht hinter sich zu lassen."

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Barbara arbeitet gemeinsam mit dem Team von sowhat, einem Institut für Menschen mit Essstörungen und der inzwischen größten ambulanten Einrichtung diesbezüglich mit Standorten in Wien und Niederösterreich.
Primäres Ziel von sowhat ist die ambulante medizinische Begleitung und psychotherapeutische Betreuung von Menschen mit unterschiedlichen Formen von Essstörungen: Anorexia Nervosa, Bulimia Nervosa sowie Esssucht. sowhat behandelt Erwachsene, Kinder und Jugendliche von 10 bis 18 Jahren.
SchülerInnen für ein Peer-Projekt gesucht
Mitmachen beim Peer-Projekt?
Bei Interesse bitte möglichst bald unter k.draxl@sowhat.at oder 0699 12055124 melden!
Katrin Draxl, Psychologin bei sowhat, wird ebenfalls Gast im Studio sein: "Gerade im Bereich Essstörungen ist die Präventions- und Aufklärungsarbeit unerlässlich, da Magersucht, Ess-Brechsucht und Esssucht teilweise immer noch nicht als ernsthafte Erkrankungen erkannt werden. Zudem scheint das Alter der von Essstörungen Betroffenen stetig zu sinken. Wir haben daher ein Schulprojekt für 14- und 15jährige zur Sensibilisierung in Bezug auf gesunde und bewusste Ernährung entwickelt. Schülerinnen und Schüler aus dem Klassenverband werden im Bereich Selbstwahrnehmung ihres eigenen Ernährungsverhaltens geschult und bekommen Basiswissen zu Ernährung, Psychosomatik und Essstörungen vermittelt (Peer-Ernährungs-Coaches)."
In diesem Zusammenhang sucht das sowhat-Beratungs- und Informationszentrum für Essstörungen noch Partnerschulen mit Schülerinnen und Schüler der neunten Schulstufe. Die Ausbildung beginnt im Herbst und wird in diesem ersten Turnus in vollem Umfang gesponsert.
Hörtipp
Heute abend werden Barbara, ehemals selbst an Bulimie erkrankt, und Katrin Draxl, Psychologin, zu Besuch ins Jugendzimmer kommen (19-20.15 Uhr). 0800226996 ist die Nummer ins Studio, wir freuen uns auf deinen Anruf!