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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

23. 5. 2009 - 15:21

They're all on the take

Der britische Parlamentsskandal zerrt an den Wurzeln des Systems. Und demontiert die Lebenslüge der Blair-Ära.

Sie hält jetzt schon zwei Wochen an, die große Krise des politischen Systems in Großbritannien. Klingt ein bisschen überzogen, oder? Andererseits kriegt man nicht jede Woche Emails von Bekannten und FreundInnen, in denen ernsthaft ventiliert wird, welche Möglichkeiten das Wahlvolk habe, seinen gewählten VertreterInnen während der Legislaturperiode das Mandat zu entziehen.

Laut einer vom Guardian initiierten ICM-Umfrage wollen 62% der BritInnen statt dem geplanten Termin 2010 noch vor den kommenden Weihnachten die Chance, ihr Member of Parliament abzuwählen. Der Zorn über die astronomischen Spesenrechnungen habgieriger PolitikerInnen eint links und rechts und betrifft das gesamte politische Establishment. Es heißt, manche Unterhausabgeordnete seien so betroffen vom scharfen Wind, der ihnen entgegen bläst, dass sie mit dem Gedanken an Selbstmord spielen.

Wolken über dem House of Commons

parliament.uk

Wolken über Westminster

Geld für Schminke, Swimming Pools und den privaten Burggraben

Auslöser des politischen Erdbebens war eine an die Öffentlichkeit gesickerte Disc, die Angaben über sämtliche Rechnungen enthielt, die sich die Mitglieder des Unterhauses als zur Ausübung ihrer parlamentarischen Tätigkeit nötige Aufwendungen vergüten ließen. Das begann bei Kosmetika, Keks, Hundefutter und Klobrillen, führte über Pferdemist (zum Gartendüngen), die Pflege des Swimmingpools, Chauffeure und Plasmaschirm-Fernseher bis zum Entwässern eines privaten Burggrabens oder der Errichtung einer Pseudofachwerkfassade und läpperte sich pro Abgeordnetem/r gern einmal zu rund 150.000 Pfund zusammen.

Die Grundlage dieser Spesenrechnungen ist der Umstand, dass ParlamentarierInnen einerseits in Westminster arbeiten, andererseits in ihrem Wahlkreis (der oft nicht mit ihrem privaten Wohnsitz übereinstimmt) präsent sein müssen. Für Ausgaben betreffend den jeweils zweiten Wohnsitz dürfen die Abgeordneten daher Entschädigungen verrechnen. Manche interpretierten das so, dass sie Zweitwohnungen mit Steuergeldern herrichten ließen, mit Gewinn weiterverkauften, sie dabei dem Finanzamt gegenüber allerdings - zur Ersparnis der Zahlung von Kapitalertragssteuer - als Erstwohnsitz deklarierten. Hazel Blears, die Ministerin für Communities, spielte das etwa gleich dreimal hintereinander so.

Der Pöbel ist nur "eifersüchtig"

Es war eine hausinterne Kommission, die von außen unkontrolliert die Abrechungen der Abgeordneten absegnete - klinisch perfekte Bedingungen zur Erschaffung einer Parallelwelt, die sich vom Leben der Menschen da draußen, wo man sein Hundefutter selbst kauft und den Burggraben auf eigene Kosten entwässert, völlig entfremdet hat.

EinE AbgeordneteR nach dem/der anderen hat sich seit Bekanntwerden diverser Spesenexzesse mit verletztem Stolz darauf berufen, dass er/sie keine Regeln gebrochen habe, unfähig zu erkennen, dass sich gerade in der Ausnützung dieser offensichtlich unzureichenden Regeln das Abgehen jedes moralischen Kompass manifestiert.

Der konservative Anthony Steen fragte etwa vorgestern in einem Radiointerview ernstlich, was es die Öffentlichkeit überhaupt angehe, dass er während der letzten vier Jahre 87.000 Pfund an Steuergeldern in die Instandhaltung seines stattlichen Zweitwohnsitzes und des Baumbestands der zugehörigen Parkanlage gesteckt habe. Das sei schließlich alles seine Privatangelegenheit. Sicher, räumte er ein, das Haus sei „sehr, sehr groß“, ja es würde oft mit Balmoral (dem schottischen Landsitz der Queen) verglichen. Und sowas mache gewisse Leute eben „eifersüchtig“.

Selbstlose Staatsbürgerpflicht?

Steens beinahe schon rührige Schamlosigkeit ist offenbar symptomatisch für das Selbstbild des House of Commons, wie das Zustandekommen der gesamten Affäre selbst illustriert: Eine EDV-Firma wurde beauftragt, die handschriftlichen Unterlagen der Spesenrechnungen zu digitalisieren. Was diese Leute dabei zu sehen kriegten, brachte sie – als brave SteuerzahlerInnen – derart auf die Palme, dass sie ihrerseits den potenziellen medialen Wert dieser Informationen zu wittern begannen.

Über anonyme Mittelsleute fanden die Daten ihren Weg in die Hände eines Ex-Offiziers der Spezialeinheit SAS namens John Wick, der sie schließlich an die Tageszeitung Daily Telegraph um sehr viel Geld weiterverkaufte.

Wer an diesem selbstlosen Akt staatsbürgerlichen Pflichtbewusstseins genau wieviel verdient hat, ist bislang nicht bekannt geworden, aber die Tatsache, dass das Unterhaus derart sensible Daten überhaupt zur Verarbeitung an eine private Firma weitergab, zeigt doch, wie wenig man sich der Zeitbombe bewusst war, die die grassierende Spesengier gerade vor dem Hintergrund einer Wirtschaftskrise samt kollabierender Pensionsfonds und steigender Arbeitslosigkeit darstellen musste.

Was die allgemeine Entrüstung über diesen Spesenskandal noch potenziert, ist die grundsätzliche Neigung der BritInnen dazu, ihre Parlamentarier als möglicherweise fehlgeleitete, unfähige, vielleicht sogar dümmliche, aber grundsätzlich rechtschaffene Leute zu betrachten.

Wenn zweieinhalb Durchschnittseinkommen noch lange nicht reichen

Der Glaube, dass die politische Elite des Landes wenigstens nicht so korrupt wäre wie anderswo, ist nicht nur tröstlich, sondern auch – so altmodisch das klingen mag - Teil des nationalen Zusammenhalts. Die älteste bestehende Demokratie der Welt will schließlich keine Bananenrepublik sein.

Nicht dass die WählerInnen deshalb die vermeintliche "Quatschbude" niederreißen wollen, wie das in postfaschistischen Gesellschaften der populäre Instinkt wäre. Ihr tief sitzender Ärger kommt vielmehr daher, dass die Abgeordneten sich als ihrer Institution unwürdig erwiesen haben. Und dass der einsame Misanthrop im finstersten Winkel des Pubs, der hinter seinem Bier hervor grault, dass die ganze Baggage nur auf ihren eigenen Gewinn aus wäre, offenbar recht behalten hat. They’re all on the take, wie das zynische Alltagsenglisch es so präzise auszudrücken weiß.

Dazu gesellt sich allerdings noch ein anderer, von der ihrerseits fett bezahlten der kommentierenden britischen Medienelite gern übersehener Faktor, der im Spesenskandal unterschwellig mitschwingt: die enormen sozialen Gegensätze innerhalb der britischen Gesellschaft.

Wenn es etwa heißt, dass die Unterhausabgeordneten soviel Spesen verrechnen mussten, weil sie mit ihren rund 65.000 Pfund Jahreseinkommen nicht ausreichend verdienen, stößt das jene Zweidrittelmehrheit vor den Kopf, die selbst weniger als das britische Durchschnittseinkommen von 24.000 Pfund verdient (tatsächlich verdienen nur 2,7 Prozent mehr als 1000 Pfund brutto die Woche, die in dieser Gruppe enthaltenen Größtverdiener heben den Gesamtschnitt aber ganz enorm).

Die mit dem Spesenskandal an die Öffentlichkeit gedrungenen Einzelheiten über den Lebenswandel der VolksvertreterInnen haben den Massen eindringlich bewusst gemacht, wie weit sie vom Futtertrog entfernt sind.

Nach der Thematisierung der utopischen Einkommen der Banker-Elite die im Zuge der Finanzkrise ist nun - dank der Enthüllungen der letzten zwei Wochen - die große Legende der Ära Blair, das verklärte Bild einer klassenlos gewordenen, rundum wohlhabenden britischen Gesellschaft, endgültig gestorben.