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Robert Rotifer London/Canterbury

Themsenstrandgut von der Metropole bis zur Mündung: Bier ohne Krone, Brot wie Watte und gesalzene Butter.

9. 5. 2009 - 16:52

whitstable

Ein Maiabend am Strand mit Kieseln, Muschelschalen, Peter Cushing und Peter O'Toole

Meer in Whitstable

Robert Rotifer

Ich war jüngererdings ein bisschen säumig hier, aber manchmal haut einen das Leben eben so viel hin und her, dass man gar nicht zur Wahrnehmung seiner Bloggerpflichten kommt.

Vielleicht auch, weil man stattdessen an einem klaren, windigen Frühlingsabend zum Beispiel lieber an den völlig menschenleeren Strand geht.

Strandhütte in Whitstable

Robert Rotifer

Die Nähe zum Meer war ja Teil des Plans, als wir vor mittlerweile bald fünf Jahren unseren Hauptwohnsitz ein paar zig Meilen in Richtung Kontinent verlegt haben. Wer mit der Form des britischen Haupteilands halbwegs vertraut ist, wird wissen, dass da rechts unten ein bisschen ein Ohr hervorsteht, was bedingt, dass Kent offiziell sowohl eine Kanal- als auch eine Nordseeküste hat.

Strandhütte in Whitstable

Robert Rotifer

Dort, also am oberen Rand des Ohrs, zwanzig Minuten Bus- oder Autofahrt von Canterbury entfernt, liegt ein Städtchen namens Whitstable, das mir über die letzten Jahre ziemlich vertraut geworden ist.

Whitstable ist voller DFLs (kurz für: Down From London), junger Familien in eher coolen Sonnenbrillen mit alternativem, oft musikalischem oder medienberuflichem Einschlag, die auf der Suche nach einer leistbaren Behausung aus der Metropole ans Meer geflüchtet sind.

Genau wie in der vergleichsweise wesentlich größeren, anderen DFL-Zentrale Brighton, existieren diese Leute ohne jegliche Durchmischung neben der indigenen Bevölkerung einher. Dass die Ureinwohner dieses Winkels von Kent in ihren Trainingsanzügen und Kapuzen meist erheblich weniger Kreditrahmen auf ihrem Plastik haben als die DFLs, sorgt für eine gewisse, immer schön unter der Schwelle des äußerlich Merklichen bleibende Spannung.

Robert Rotifer

So wie Brighton hat auch Whitstable einen hübschen (allerdings etwas feineren, zum Teil ins Sandige übergehenden) Kieselstrand. Anders als in Brighton säumen verschlafene Strandhütten, die an warmen Sommertagen ihre blinden Fenster und Türen öffnen, die Seaside. Die sind in den Boom-Jahren vom Äquivalent des Schrebergartenhäuschens zum Statussymbol mutiert.

In Whitstable wohnende Freunde haben jahrelang angedroht, mir meine nie verwirklichte, große Geschäftsidee zu klauen: T-Shirts auf denen vorn ein bourgeois dezentes "DFL"-Logo drauf ist, und am Rücken steht: "How much is your beach hut?" Wäre ein Renner gewesen, jetzt ist es zu spät.

Strandhütte in Whitstable

Robert Rotifer

Ich selbst hab ja ein gespaltenes Verhältnis zur Strandhütte. Einerseits hat es was, an diesem Strand windgeschützt zu sein, auch im Sommer. Andererseits haben diese "little boxes" (copyright Malvina Reynolds - übrigens ist Pete Seeger grad 90 geworden) gerade im kreativen Ringen ihrer BesitzerInnen um Originalität durch exzentrische Bemalung immer auch ein bisschen was Ärmliches.

Strandhütte in Whitstable

Robert Rotifer

Ihr seht, was ich meine?

Strandhütte in Whitstable

Robert Rotifer

Aber Whitstable, das sogar einen Yacht Club - allerdings eher einen für kleine Nussschalen - hat, ist keineswegs ein biederer Flecken. Nicht nur wegen der jeden Anflug von Idyll stark einbremsenden Zementfabrik mitten am Strand, sondern z.B. auch wegen des Old Neptune, einem Pub, vor dem immer eine Menge alter Punks und Schlägertypen mit ihren Hunden abhängen, Bier und Cider aus dem Plastikbecher trinken, Zigaretten drehen und Crisps mit Shrimps-Geschmack essen.

Wo wir schon bei alten Punks sind: Topper Headon von The Clash kann man mit etwas Glück hier übrigens auch mit Hund seine Runden drehen sehen.

Old Neptune Pub

Robert Rotifer

The Old Neptune

Im Old Neptune spielen auch Bands, aber eher nicht solche, von denen ihr gelesen habt. Und hin und wieder Steve Bolton, der in den Siebzigern bei Atomic Rooster war. Und dann in der Band von Paul Young. Und dann 1989, als Pete Townshend seine Ohren schonen wollte, Live-Lead-Gitarrist bei The Who. Heutzutage spielt er in allen möglichen Pubs in East Kent und erzählt Geschichten von den fetteren Zeiten.

Im gar nicht schlechten Film "Venus" aus dem 2006er Jahr, der etwas spukigerweise einerseits ums Eck von meiner alten Londoner Wohnung, andererseits in Whitstable spielte, trank wiederum ein greiser Peter O'Toole im Old Neptune sein letztes Bier, bevor er draußen am Kieselstrand seinen letzten Röchler tat.

Peter Cushing als Van Helsing

Hammer Films

Peter Cushing als Van Helsing

Einen Steinwurf strandabwärts steht das ehemalige Wohnhaus des 1994 verstorbenen Hammer Horror-Darstellers Peter Cushing.

Vor dem geistigen Auge kann man ihn im Ohrensessel auf dem Balkon sitzen und hinüber in Richtung der sich im Dunst abzeichnenden Isle of Sheppey schauen sehen. Muss aber nicht so gewesen sein, vielleicht hat er sie ja auch gemieden, seine Veranda, was weiß man schon.

Von dort aus lässt es sich jedenfalls noch endlos weiter gehen, bis jenseits der Caravan Site, die man in Amerika wohl Trailer Park nennen würden. Die sozialen Implikationen sind ähnliche.

Caravans am Strand

Robert Rotifer

Strand in Whitstable

Robert Rotifer

Am besten man hat zum Picknicken ein Plastiksäckchen voller Austern mit dabei, die man drüben am Hafen spottbillig praktisch direkt vom Boot weg erstehen kann, um fünf, sechs Pfund für das sättigende Dutzend Rock Oysters (die Natives sind teurer und seltener).

Zumindest theoretisch halten Austern hier immer noch, so wie früher einmal, als Arme-Leute-Essen her.
Die circa 10 Pfund Aufpreis im Restaurant zahlt man eigentlich bloß dafür, dass ein anderer sie aufmacht. Die Moules sind hier übrigens auch mindestens genauso gut aber deutlich billiger als in Belgien.

Austernschalen

Robert Rotifer

Wenn's am Strand dann schließlich wirklich zu kalt wird, kann man sich durch die engen Alleyways wieder in Richtung der windgeschützten High Street schlängeln. Und von dort vielleicht weiter zum Bahnhof back up to London.

Falls ihr - jetzt wo das Pfund gerade noch niedrig ist aber bereits wieder merklich steigt - vorbeikommen wollen solltet: Die Fahrzeit zwischen Victoria Station und Whitstable beträgt eine Stunde und neunzehn Minuten. Die Rückfahrkarte (immer Rückfahrkarte kaufen!) kostet nach zehn Uhr morgens etwa 20 Pfund.

So.

Ich nehme zwar sicher nicht mit Unrecht an, dass es wenig Unhipperes gibt, als einen Blogeintrag mit dem Anfang des Love Song of J. Alfred Prufrock von T.S. Eliot zu beenden, aber wenn's schon so gut passt...

Austerschalen-Recycling

Robert Rotifer

Spruch auf Strandhütte: You are beautiful, have a lovely day

Robert Rotifer

Let us go then, you and I,
When the evening is spread out against the sky
Like a patient etherised upon a table;
Let us go, through certain half-deserted streets,
The muttering retreats
Of restless nights in one-night cheap hotels
And sawdust restaurants with oyster-shells:
Streets that follow like a tedious argument
Of insidious intent
To lead you to an overwhelming question …
Oh, do not ask, “What is it?"
Let us go and make our visit.